Der Kampf um die Bedeutung des Islam

Der syrische Denker Sadik al-Azm schlug den Arabern bereits 1968 eine "Selbstkritik nach der Niederlage" und im folgenden Jahr eine "Kritik des religiösen Denkens" vor. Er sieht für den muslimischen Glauben einen dritten Weg zwischen Radikalismus und Staatsislam.

Der syrische Denker Sadik al-Azm schlug den Arabern schon 1968 eine "Selbstkritik nach der Niederlage" und im folgenden Jahr eine "Kritik des religiösen Denkens" vor. Er sieht für den muslimischen Glauben einen dritten Weg zwischen Radikalismus und Staatsislam.

Koran; Foto: dpa
Noch immer hat der Wortlaut des Korans für Muslime wesentlich mehr Gewicht als jegliche Lesart des Alten oder des Neuen Testaments, meint Sadik al-Azm.

​​Es ist unbestritten, dass der Islam als Glaube und als eine der historischen Weltreligionen derzeit eine politische und kämpferische Virulenz in sich trägt; ebenso wichtig ist es aber, wahrzunehmen, dass der politische Islam nicht der ganze Islam ist und dass der gewalttätige Islam der Jihadisten nicht der ganze politische Islam ist.

Und es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass – anders, als es der erste Eindruck suggeriert – ein erbitterter Kampf um die Definition des muslimischen Glaubens und die diesbezügliche Deutungsmacht ausgetragen wurde.

Diese Tatsache steht der im Westen wie in der muslimischen Welt verbreiteten Auffassung entgegen, die den Islam als eine Art einheitliche, allgegenwärtige und praktisch allmächtige Determinante wahrnimmt, die den Muslimen jegliche Handlung und Zielsetzung vorschreibt.

In den islamischen Ländern dient diese abstrakte und verzerrte Sichtweise direkt den Mullahs und ihren religiösen Machtstrukturen zu; dementsprechend wird sie von ihnen eifersüchtig gehütet und propagiert.

Die breitere Bevölkerung findet in ihr einen zweckdienlichen Mechanismus zur psychologischen Selbstvergewisserung. Im säkularen Westen dagegen verspricht sie einfache Erklärungen für schwer durchschaubare Probleme; so kommt es, dass diese Sicht des Islam sich heute allenthalben ähnlicher Beliebtheit erfreut.

Keine Religion über Kritik erhaben

Der Kampf um Definition und Deutungsmacht in der islamischen Welt ist deshalb so heftig, weil die Religion auch heute noch die doktrinäre Basis muslimischer Gesellschaften ist und weil sie diesen ein kollektivistisches und kommunitäres Gepräge verleiht, das im Gegensatz zu den hochgradig individualisierten und privatisierten Formen der Religiosität steht, die mittlerweile im Westen praktiziert werden.

Türkischer Ministerpräsident Tayyip Erdogan; Foto: AP
Der Einfluss des "Islam der Mittelklasse", den die türkische Regierungspartei AKP vorlebt, ist in der arabischen Welt weithin spürbar, so Sadik al-Azm.

​​Auch konnten sich die modernen Lesarten des Korans und der islamischen Basistexte, die deren Aussagen durch eine symbolische, metaphorische oder historische Interpretation auflösen wollten, bisher nicht durchsetzen.

So hat der Wortlaut des Korans nach wie vor wesentlich mehr Gewicht als jegliche Lesart des Alten oder des Neuen Testaments. – Dies erklärt zumindest teilweise die kollektiven Zornesausbrüche, die etwa Salman Rushdies "Satanische Verse" oder die dänischen Mohammed-Karikaturen in der islamischen Welt provozierten.

Trotz einer reichen Tradition von Satire und Kritik, Parodie und Humor in der arabischen und persischen Literatur hat sich der zeitgenössische Islam noch nicht mit der Idee abfinden können, dass in der modernen Welt keine Religion mehr über Kritik und Satire erhaben ist.

Allenfalls haben die Muslime in dieser Hinsicht gewisse Fortschritte gemacht; darauf könnte die Tatsache hinweisen, dass Geert Wilders' umstrittener Film "Fitna", der ein äußerst herabsetzendes Bild des Islam entwarf, in der muslimischen Welt mit großer Beherrschtheit, also mit überlegten und vernunftgemäßen Reaktionen anstelle von zornigen Massendemonstrationen aufgenommen wurde.

Drei Fraktionen

Im Ringen um die Deutungshoheit und Kontrolle über den Islam stehen sich hauptsächlich drei Faktionen gegenüber. Die erste konstituiert sich aus Regierungen, Staatsapparaten und dem etablierten Klerus, die gemeinsam das formulieren und propagieren, was man als "offiziellen Staatsislam" bezeichnen könnte.

Dessen markanteste Ausprägung ist der von Ländern wie Saudi-Arabien und Iran praktizierte "Petro-Islam", dessen Praxis und globale Verbreitung mit den Geldern aus dem Erdölgeschäft finanziert werden.

Führer der Muslimbruderschaft Muhammad Mahdi Akif; Foto: AP
Die Muslimbruderschaft gehört zu den einflussreichsten politischen Bewegungen im Nahen Osten. Muhammad Mahdi Akif ist derzeitiger Führer der Muslimbruderschaft in Kairo.

​​Die offizielle Doktrin des schiitisch-iranischen Petro-Islam ist die velayat-e faqih, die Autorität der Rechtsgelehrten, während die saudische Variante direkt auf den Koran als Verfassung des Staatswesens gegründet ist.

Jeder Staat in der islamischen Welt hat inzwischen seine den eigenen Interessen dienliche Version des "offiziellen Islam" entwickelt. Sogar die säkulare kemalistische Türkei befand es für nötig, zumindest befristet auf eine vergleichsweise tolerante, flexible und gutwillige Form des Islam zurückzukommen.

Insgesamt erwies sich der Staatsislam – insbesondere in seinen rigidesten und wortgetreusten Lesarten – während des Kalten Krieges als unentbehrlicher Alliierter und Helfer des Westens. Diese Spielart des Islam und der Westen sind somit alte Bekannte, die sich gut verstehen und ausgezeichnet miteinander kooperieren können. Deshalb darf man die bombastischen Klagen, die sie auf der öffentlichen Bühne gegeneinander führen, mit einem Körnchen Salz nehmen.

Das Banner des Jihad

Das Gegenstück zum Staatsislam ist der militante radikale Islam mit seiner Unzahl von Fraktionen und Gruppierungen, die das längst in Vergessenheit geratene Banner des Jihad wieder hissten, um ihre Ziele weltweit mit Hilfe von spektakulären Gewaltakten durchzusetzen.

Sadik Jalal al-Azm; Foto: Ikhlas Abbis
Der syrische Philosoph Sadik Jalal al-Azm erhielt 2004 den niederländischen Erasmus-Preis und 2005 die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg. Sein wichtigstes Werk ist "Kritik des religiösen Denkens".

​​Dieser Islam hat 1979 die Kaaba in Mekka besetzt und damit das Königreich Saudi-Arabien in seinen Grundfesten erschüttert; er hat 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat ermordet, in der Hoffnung, eine islamische Revolution im Lande loszutreten; er hat einen vergeblichen, aber blutigen Kampf gegen die Regime in Syrien, Ägypten und Algerien geführt und seine Aggression am 11. September 2001 in die USA getragen.

Die neue Doktrin des Jihad belegt alle Regierungen in der muslimischen Welt mit dem Vorwurf der Apostasie und betrachtet sie als lediglich nominell muslimische Institutionen, die dringend der Re-Islamisierung bedürfen. Dann sollen die Herrschaft Gottes (Hakimija) und sein Gesetz (Scharia) zunächst in den islamischen Ländern, dann in der ganzen Welt etabliert werden.

Diese Spielart des Islam hält die Abwartehaltung der muslimischen Mehrheit für untragbar; die eigenen, spektakulären Gewalttaten dagegen werden als acte gratuit zur höheren Ehre Gottes verstanden. Ein solches Glaubensverständnis hat sich um des blinden Aktivismus willen von allen modernen Ideen wie Gesellschaft, Reform, Parteipolitik und Rechtmäßigkeit wie auch von der Religiosität der großen Mehrheit losgesagt.

Der Weg der Mitte

Hier muss angemerkt werden, dass die libanesische Hizbullah und die palästinensische Hamas zwar Ähnlichkeiten mit dieser Variante des Islam aufweisen, ihm aber nicht völlig zuzurechnen sind.

Beide Organisationen sind aus traditionellen nationalen Befreiungsbewegungen entstanden und setzen ihre islamistisch geprägte Ideologie zur Mobilisierung für begrenzte politische Ziele ein. Ihre Kämpfe sind lokal beschränkt, richten sich lediglich gegen den Besatzer, haben ein klar definiertes Ziel und genießen substanziellen Rückhalt in der Bevölkerung.

Letztlich gibt es einen kommerziellen Islam der Mittelklasse, der sich vor allem in den Bourgeoisien muslimischer Länder findet. Er ist durch eine ganze Anzahl von Institutionen vertreten, etwa Handels-, Industrie- und Gewerbekammern oder die Zweige des islamischen Bankgeschäfts.

Da diese Mittelklasse in den betreffenden Ländern das Rückgrat der Zivilgesellschaft darstellt, dürfte dieser Islam generell zum Islam der muslimischen Zivilgesellschaft werden. Es ist ein moderates, konservatives Islamverständnis, das den Gang der Geschäfte nicht stört. Es schreckt vor linken Weltverbesserern ebenso zurück wie vor radikalislamischen Eiferern.

Das Modell für die Hegemonie eines solchen Islam findet sich heute in der Türkei mit ihrer gemäßigt islamischen AKP-Regierung. Der Einfluss dieses Modells ist in der arabischen Welt – dem Herzland des Islam – schon weitherum spürbar.

Wenn die gegenwärtig in Aufruhr befindlichen arabischen Staaten und Gesellschaften erst einmal zu einem Maß an Stabilität und Demokratie gefunden haben, dann dürfte nach meinem Ermessen ein solcher Mittelklasse-Islam die Oberhand gewinnen und für längere Zeit dominieren.

Sadik Jalal al-Azm

© Neue Zürcher Zeitung 2008

Sadik Jalal al-Azm wurde 1934 in Damaskus geboren. Er studierte Philosophie in Beirut und unterrichtete als Professor an den Universitäten New York, Beirut, Amman und Damaskus. Eines seiner bekanntesten Werke trägt den Titel "Kritik des religiösen Denkens". Sein aktuelles Werk ist "Ces interdits qui nous hantent".

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