Der Orient als Konstruktion – Europa und die arabische Welt

Abbas Beydoun, Feuilletonchef der libanesischen Tageszeitung As-Safir, wünscht sich ein stärkeres Engagement der Europäer im Nahen Osten. Mit ihm sprach Nicole Maschler.

Abbas Beydoun, Foto: Larissa Bender
Abbas Beydoun

​​Sie lehnen den Begriff "Orient" ab. Weshalb?

Abbas Beydoun: Der Begriff "Orient" ist ein künstlicher, er wurde vom Westen erfunden. Für die arabischen Intellektuellen ist er ohne Bedeutung: Sie wollen nicht hinnehmen, dass es zwei Welten gibt, den Okzident und den Orient. Die Araber glauben nicht, dass sie in einer eigenen islamischen oder arabischen Welt leben mit einer eigenen Kultur, mit eigenen Zielen und Perspektiven. Schließlich bestehen zwischen den Muslimen in Mittelasien und der arabischen Welt kaum Verbindungen. Es gibt zwar diese gemeinsame Religion, aber keine muslimische Identität oder Kultur.

Rührt der Hass auf den Westen daher, dass sich die Araber ausgeschlossen fühlen?

Beydoun: Der Hass auf den Westen resultiert aus Schuldgefühlen. Die arabischen Muslime haben ihre Welt verloren, sie haben sich in allen Lebensbereichen dem Westen angepasst. Sie haben vor dem Westen kapituliert. Der westlichen Invasion im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich konnten sie nichts entgegenhalten. Die Araber haben sich zwar gegen den kolonialistischen Angriff gewehrt, aber ohne Erfolg. Sie hatten einfach keine Kraft, Widerstand zu leisten. Die sozialen und ökonomischen Strukturen in den arabischen Ländern waren zu schwach und zu fragil. Die Araber haben mit Schwertern gegen Hochtechnologie, gegen automatische Waffen gekämpft. Diese rasche Selbstaufgabe haben sich die arabischen Muslime nicht verziehen. Und das ist der Grund für den Hass auf den Westen.

Sind es nicht vor allem die Intellektuellen, welche die arabischen Völker als Opfer des Westens stilisieren?

Beydoun: Arabische Intellektuelle erklären den mangelnden Widerstand gegen die westliche Vereinnahmung damit, dass dem Islam der Antrieb zur Konfrontation fehlte. Diesen Antrieb sehen sie in einem neuen nationalen Selbstbewusstsein. Dies soll die Gefühle von Unterlegenheit gegenüber dem Westen kompensieren.

Warum lassen sich die Intellektuellen vor den nationalistischen Karren spannen?

Beydoun: Arabische Intellektuelle lassen sich – vereinfacht gesagt – in zwei Kategorien unterteilen: Es gibt die populistischen Intellektuellen, die diese Schuldgefühle, diesen Hass schüren. Diese Intellektuellen dominieren. So gab es auch im Irak viele Intellektuelle, wahabitische Fanatiker, die das Regime von Saddam Hussein unterstützt haben. Arabische Intellektuelle, die keine Propaganda verbreiten, sind die Ausnahme. Und sie werden häufig nicht gehört.

Was kann der Westen tun, um diese unabhängigen Kräfte zu stärken?

Beydoun: Europa sollte eine größere Rolle in der Region spielen, denn es hat lange Erfahrungen mit der arabischen Welt. Schließlich handelt es sich um seine ehemaligen Kolonien. Das gilt vor allem für die Franzosen und Briten. Ich bin überzeugt, dass sich eine in die Zukunft gerichtete Politik auf ein solches arabisch-europäisches Projekt, auf die Integration der Region in einen globalen Zusammenhang stützen muss. Das ist eine Form der Globalisierung, die ich akzeptiere. Ich habe immer noch die Hoffnung auf eine Welt, in der die unterentwickelten Länder einbezogen werden, man ihnen hilft, den Anschluss zu finden. Diese Form der Globalisierung steht dem US-Konzept entgegen, das darauf zielt, die Welt nach amerikanischen Interessen zu formen und auf lange Sicht viele Gesellschaften, viele soziale Klassen, viele Kulturen von sich selbst entfremdet.

Überschätzen Sie nicht den Einfluss der Europäer?

Beydoun: Die ganze Welt redet derzeit von Utopien. Bush redet von Akten des Guten, Europa redet von Menschenrechten und von den Vereinten Nationen. Ich träume von einer Welt, in der sich Politik auf die Moral stützt. Eine Politik, welche die Interessen aller Menschen berücksichtigt. Denn ich glaube, dass wir – sei es im Umweltbereich, sei es in sozialer Hinsicht – an einem Punkt angekommen sind, an dem die Interessen aller Menschen untrennbar miteinander verflochten sind. Ich bin überzeugt, dass diese Aufgabe den Vereinten Nationen zufallen sollte - nicht, weil ich anti-amerikanisch eingestellt bin. Aber die USA und die amerikanischen Politiker glauben, sie seien die Wächter des Guten, die gegen das Böse in den Krieg ziehen. Dabei verfolgen sie lediglich ihre eigenen Interessen.

Es war also ein Fehler, dass die Europäer den USA im Irak das Feld überlassen haben?

Beydoun: Ja, die Europäer verhalten sich sehr passiv. Sie reden, aber sie handeln nicht. Sie beschränken sich darauf, Nein zum Krieg zu sagen. Das ist falsch, schließlich hat Saddam Hussein einen kontinuierlichen Krieg gegen sein eigenes Volk geführt. Der Irakkrieg ist ein Krieg, den Saddam seinem Volk auferlegt hat. Und er geht immer noch weiter. Die Anhänger von Saddam Hussein sind Verbrecher, sie haben die Macht gestohlen. Die Erwartung, dass sich das irakische Volk aus eigener Kraft von ihnen befreit, ist unrealistisch. Es gibt viele Beispiele dafür, dass sich ein Volk nicht von seinem Despoten befreien konnte. Dafür kann man die Iraker nicht verurteilen. Auch in Europa gibt es nur wenige Nationen, die immer demokratisch regiert waren. Betrachten Sie nur Deutschland: Die Amerikaner haben den Deutschen geholfen, den Weg zur Demokratie wiederzufinden. Es ist nichts Falsches daran, andere Nationen um Hilfe zu bitten. Aber diese Unterstützung muss geregelt, muss kanalisiert werden. Es muss eine internationale Hilfe sein. Aber bisher sind die Vereinten Nationen im Irak nicht wirklich präsent.

Interview: Nicole Maschler

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

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Abbas Beydoun wurde 1945 in Sur im Libanon geboren. Er studierte Arabische Literatur an der Libanesischen Universität. Beydoun schrieb zunächst über politische Themen, später wandte er sich ausschließlich der Dichtung zu. Er ist eine bekannte Größe in der arabischen Welt. Zurzeit ist er Feuilletonchef der libanesischen Tageszeitung As-Safir.