"Europa nimmt seine Rolle nicht wahr"

Amnon Raz-Krakotzkin, Professor für Judaistik an der Ben-Gurion University in Beer Sheva, ist derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Mit Youssef Hijazi sprach er über den Mythos des Zionismus und seine Erwartungen an Europa.

Amnon Raz-Krakotzkin, Foto: Youssef Hijazi
Amnon Raz-Krakotzkin

​​Prof. Amnon Raz-Krakotzkin, ein Jahr lang haben Sie als Fellow am Wissenschaftskolleg an einem Projekt gearbeitet. Worum ging es dabei?

Amnon Raz-Krakotzkin: Mein Hauptprojekt war eine Studie, die der kritischen Analyse der zionistischen Geschichtsauffassung gewidmet ist. In diesem Buch, das ich hoffentlich bald beenden werde, demonstriere ich die messianisch-theologischen und kolonial-orientalistischen Dimensionen, die dem zionistischen Mythos innewohnen.

Ich versuche darzustellen, inwiefern das zionistisch-historische Bewusstsein auf Unterdrückung und Auslöschung der Geschichte basiert: der Geschichte des Landes Israel/Palästina und insbesondere der Nakba, der Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern im Jahre 1948 – aber auch der wechselvollen Geschichte der Juden.

Gleichzeitig versuche ich aufzudecken, wie der zionistische Diskurs dieselben europäischen Werte und Konzepte bemühte, die eine Ausgrenzung der Juden ermöglichte, um jüdische Identität zu definieren: Juden, die in Europa für Orientalen gehalten wurden, kamen in den Nahen Osten, um eine europäische Gesellschaft zu schaffen, die auf der Verneinung des Orients und der arabischen Existenz basiert.

Aus politischer Sicht mangelt es an einer alternativen Perspektive.

Gleichzeitig versuche ich, einen Alternativdiskurs anzubieten, basierend auf dem Konzept des Binationalismus, was sich nicht unbedingt auf eine Ein-Staaten Lösung bezieht, sondern sich als kritische Position des gegenwärtigen israelischen Bewusstseins versteht.

Dieser Aspekt ist politisch, und ich führe ihn in einem anderen Buch mit dem Titel "Exil und Binationalismus" aus, das bald auf Französisch im Verlag Lafabrique editions erscheinen wird.

Ich denke, dass die Kritik am Zionismus verhallt, wenn wir nicht versuchen, Alternativen zu finden. Ich schreibe von einem israelischen Standpunkt aus, und als Israeli fühle ich mich verantwortlich für die Opfer des Zionismus.

Die Frage, die ich stelle, ist, wie können wir eine israelisch-jüdische Gesamtheit definieren, die auf der Anerkennung von palästinensischen Rechten basiert und die Rechte der Flüchtlinge mit einschließt. Ich glaube noch immer, dass zumindest im Augenblick die Zwei-Staaten-Lösung die einzige Alternative darstellt, sie kann aber aus israelischer Sicht nicht unter den Prinzipien verwirklicht werden, die weiterhin den Friedensprozess bestimmen.

Die Errichtung eines palästinensischen Staates kann als vernünftiger Weg gelten, um die Frage der Besatzung zu lösen, aber er lässt viele Fragen offen.

Meine Hauptkritik richtet sich gegen den "säkularen Zionismus" und den so genannten säkularen zionistischen Mythos. Folglich richtet sich meine Kritik auf der politischen Ebene gegen die Auffassung, die das so genannte "Friedenscamp" in Israel vertritt.

Inwiefern sind diese Kräfte säkular und inwiefern ist dies relevant in Hinblick auf die gegenwärtige Politik?

Raz-Krakotzkin: Sie haben Recht, diese Definition ist sehr problematisch. Sie werden "säkular" genannt, weil sie die Halakha, das jüdische Gesetz, zurückweisen, bzw. darauf verzichten.

Aber der Mythos, der die so genannten Nationalsäkularen definiert, basiert auf einer Interpretation des theologischen Mythos, wonach die gegenwärtige jüdische Existenz in Palästina, als Rückkehr der Juden in ihr Vaterland (das als unbesiedelt angenommen wird!) aufgefasst wird, als Erfüllung jüdischer Geschichte und der Gebete der Juden.

Nationalismus ist kein Ersatz des theologischen Mythos, sondern eine Interpretation des Mythos. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen "säkularer" und "religiöser" Identität in Israel problematisch.

Ich will die Unterschiede nicht untergraben, oder die tatsächliche Gefahr der religiös-nationalistischen Gruppen ignorieren. Aber ich behaupte, dass die Ursprünge dieser radikalen, rechts orientierten Gruppen nicht in der jüdischen Religion zu finden sind, sondern in der säkularen Interpretation des Mythos.

Deshalb kann man, ohne diese Aspekte zu verstehen, keine wirkliche Alternative zur Ideologie der rechts orientierten Siedler vorschlagen. Auch für säkulare Zionisten ist die Bibel eine autoritative Quelle. Man kann "säkularen" Zionismus wie folgt zusammenfassen: Gott existiert nicht, aber er hat uns das Land versprochen.

Es bedeutet gleichwohl nicht, dass der Zionismus traditionellem jüdischem Gedankengut folgt. Israel ist weder ein säkularer Staat noch ein Nationalstaat. Es wird als "Staat des jüdischen Volkes" betrachtet, um die Öffnung für Bürger anderer Länder zu ermöglichen, dies jedoch durch die Ausschließung seiner arabischen Staatsbürger und ihre systematische Enteignung.

Welche politische Bedeutung hat diese Haltung?

Raz-Krakotzkin: Lassen Sie mich an die einfachen Fakten erinnern: Die Intifada begann nach der Ermordung von sieben Palästinensern in der Moschee, nach dem provozierenden Besuch von Ariel Sharon auf dem Tempelberg. Anfangs gab es hauptsächlich Massendemonstrationen und Schüsse auf Siedler - aber es gab in dieser Phase keine Terrorangriffe, gleich den späteren Selbstmordattentaten.

Gefühle, wie Depression und Enttäuschung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung waren wohl bekannt. Der Friedensprozess brachte nur eine minimale Autonomie für einen bestimmten Teil der Palästinenser in den besetzten Gebieten.

Jeder wusste über den massiven Ausbau der Siedlungen während der Regierungszeit Baraks Bescheid - es wurden weit mehr Siedlungen als unter Netanjahu ausgebaut-, doch alle schwiegen. Die Politik der Liquidierung palästinensischer Führer, der Zerstörung von Wohnorten und Gebäuden, von Abriegelung und Zerstörung - all dies wurde von den Linken verübt, und deshalb von den europäischen Regierungen akzeptiert. Nun werden dieselben Gruppen weiter unterstützt.

Welche Rolle kommt Europa in dem Konflikt zu?

Raz-Krakotzkin: Europa akzeptiert im Allgemeinen die Linie der israelischen Linken und nimmt an virtuellen Verhandlungen teil. Das Problem ist, dass Europa nahezu unkritisch die israelische Version akzeptiert.

Im Augenblick hat Europa seine Position verloren und trägt nicht wesentlich zum Friedensprozess bei. Im Prinzip akzeptiert Europa die amerikanische Politik, obwohl manchmal Kritik geäußert wird, jedoch ohne praktische Umsetzung.

Europa verfolgt keine unabhängige Politik hinsichtlich der israelisch/palästinensischen Frage. Es akzeptiert die amerikanischen Formeln, wie die "roadmap", wenn auch mit ein wenig Kritik. Doch dieser Weg führt ins Nichts. Im Gegenteil!

Er dient auf der praktischen Ebene der Legitimation der Besatzung. Gleichzeitig wird das israelische "Recht, den Terror zu bekämpfen", als Legitimation der brutalen Politik der Zerstörung interpretiert. Alle israelischen Aktivitäten, die die Infrastruktur der palästinensischen Gesellschaft zerstören, werden ohne ernsthafte Kritik, um nicht zu sagen tatenlos, hingenommen.

Ich denke, dass Europa sich seiner Verantwortung gegenüber der gegenwärtigen Katastrophe bewusst sein sollte. Als die Palästinenser das Oslo-Abkommen unterschrieben, erhofften sie von der EU und jedem europäischen Land, dass diese eher einen neutralen Standpunkt einnehmen würden, und dass sie die palästinensische Grundforderung nach einem souveränen Staat in 22 Prozent des historischen Palästina unterstützen würden.

Klar war, dass die Vereinigten Staaten immer auf Israels Seite stehen würden. Doch Europa nahm seine bedeutende Rolle nicht wahr und ist deshalb für den Zusammenbruch der Gespräche verantwortlich, besonders für deren Eskalation.

Die Verletzung von grundsätzlichen Menschenrechten wird in einer Weise akzeptiert, die wir uns vor etwa fünf Jahren nicht hätten vorstellen können. Alles wird im Namen des "Kampfes gegen den Terror" gerechtfertigt, obwohl dies nur zu einer Eskalation der Gewalt führt.

Heute setzt Europa seine Unterstützung der israelischen Linken fort - die jetzt in der Opposition sind - um irrelevante "Dialoge" und Initiativen anzuregen. Doch all diese Initiativen sind virtuell. Gleichzeitig wird die Unterdrückung der Palästinenser ohne jede Kritik akzeptiert. Nicht zum ersten Mal schaut die Welt schweigend zu.

Was kann Europa denn konkret tun?

Raz-Krakotzkin: In der Hauptsache muss verstanden werden, dass die Logik der gegenwärtigen Verhandlungen nicht zum Ende des Konflikts per Definitionem führt. Erst wenn wir erkennen, dass dies eine Illusion ist, können wir an eine Änderung denken. Die virtuellen Vereinbarungen schaffen die Illusion einer möglichen "Lösung", als ob das einzige Problem die "Details" wären.

Im Augenblick scheint es schwierig, an eine Veränderung ohne eine internationale Einmischung und in diesem Sinn europäische Intervention zu denken. Und hiermit meine ich den Einsatz internationaler Streitkräfte zum Schutz der Palästinenser, und zur Verhinderung von Terrorangriffen.

Dies ist der einzige Weg, ein Ende der Gewalttätigkeiten zu erreichen und ein Schritt in Richtung einer Beendigung der Besatzung. Die Schwierigkeiten dieser Idee sind mir bewusst, doch ich kann mir keine Alternative vorstellen.

Während der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zerstörung, einschließlich der Zerstörung der palästinensischen Autonomie, ist eine Art Intervention notwendig.

Doch man kann Europa nicht bitten, Verantwortung zu übernehmen, ohne die öffentliche Meinung in Israel zu ändern. Als Israeli ist dies immer noch meine Hauptverantwortung.

Wir müssen eine umfassende Alternative anbieten, eine neue Art zu denken. Auf die Dauer ist dies nicht nur der Weg, der die palästinensischen Rechte erfüllt, sondern auch die jüdische Existenz schützt.

Wie soll diese Alternative realisiert werden?

Raz-Krakotzkin: Ich bin sehr pessimistisch, aber wir versuchen heute, neue Ideen und neue Perspektiven zu fördern - eine neue Vision, die sowohl israelische Juden als auch Palästinenser einschließt.

Wir brauchen eine neue Vision: Eine Vision der Koexistenz, die das Konzept der Trennung ersetzt. Wir müssen gegen den Apartheid-Staat kämpfen, der nach und nach eingeführt wird.

Eine binationale Vision kann auf verschiedene Arten und in mehreren Phasen realisiert werden – bleibt aber die einzige Option für beide Völker.

Das Interview führte Youssef Hijazi

© Qantara.de 2004

Wissenschaftskolleg zu Berlin