Gerangel der Kraftprotze

Yeo Yong-Boon, Singapurs Außenminister befürchtet wegen des wachsenden Selbstbewusstseins mancher Staaten Südostasiens Spannungen in der Region. Von Stefan Kornelius

Nächtliche Skyline Singapurs, Foto: AP
Ein islamistisch motivierter Anschlag wäre eine schwere Bewährungsprobe für die multikulturelle Gesellschaft Singapurs und hätte Auswirkungen auf die ganze Region.

​​Singapur - Wer das asiatische Wunder beschreiben will, der sollte ein paar gute Aschenputtel-Geschichten parat haben, private Märchen über den Erfolg und die schier grenzenlose Energie, die den Kontinent nach vorne peitscht. Zum Beispiel von den Angehörigen in China, die vor wenigen Jahren noch Pökelfleisch geschickt bekamen aus der kleinen Wohlstandsenklave Singapur. Care-Pakete von den reichen Verwandten, ein Signal in die Armut hinein.

Die Mutter hatte das Essen selber eingedost in ihrem bescheidenen, aber durchaus aufstrebenden Haushalt. Heute fährt der Sohn häufig nach China, und jetzt sind es die Verwandten in den chinesischen Boom-Städten, die ein üppiges Essen ausrichten. Da spielt es keine Rolle, dass der Gast Yeo Yong-Boon heißt und Außenminister von Singapur ist.

Yeo ist einer der am schärfsten analysierenden politischen Intellektuellen, die das asiatische Wunder beschreiben können. Seine Worte sind mahnend, manchmal dramatisch, und für alle, die den politischen und wirtschaftlichen Boom Ost- und Südostasiens nicht wahrhaben wollen, hat er eine simple Botschaft parat: Tempo, oder der Zug fährt ohne euch ab.

Yeo wurde 1954 in Singapur geboren und wechselte mit 34 Jahren von einer militärischen Karriere in die Politik. Da hatte er es gerade zum Brigadegeneral gebracht. In den vergangenen 18 Jahren durchlief er alle möglichen Staatssekretärs- und Ministerposten: im Handels-, Finanz-, Gesundheits- und im Außenministerium.

Vor allem aber ist er ein historisch bewanderter Politiker, der nun einen Entwicklungszyklus beschreibt, der längst überfällig war. "Zweihundert Jahre haben die Chinesen auf die Chance gewartet - sie werden sie nicht verstreichen lassen", sagt Yeo in seinem Empfangszimmer im Außenministerium in Singapur. "Und immer wenn China reich war in der Geschichte, hat es Wohlstand nach Südostasien gebracht. Wir wollten und werden aber nie chinesische Kolonien sein, denn ein friedliches und spannungsarmes Südostasien war immer im Interesse aller."

Japans tief sitzende Angst

Die außenpolitischen Fachleute in Singapur beschäftigen sich endlose Stunden lang mit der blitzartigen Transformation der Region zum ökonomischen und politischen Kraftzentrum der Welt. Für Yeo stehen dabei zwei Fragen ganz oben auf der Liste: "Das wichtigste Thema ist Krieg und Frieden."

Der Aufstieg Chinas zur Führungsmacht erzeuge auch Spannungen, die sich im schlimmsten Fall gewaltsam entladen könnten. "Die Menschen lernen nicht aus den Lektionen der Geschichte", sagt er. Yeo beobachtet mit Sorge das wachsende Selbstbewusstsein und den Nationalismus der aufstrebenden Nationen in der Region.

Zentrales Problem ist dabei der japanische Nationalismus und die Weigerung Tokios, sich seiner Vergangenheit zu stellen. "Japan hat eine tief sitzende Angst vor China", sagt er, aber Japan wird seine Rolle als moralische Führungsnation der Region niemals spielen können, wenn es seine historischen Probleme (als Besatzungsnation) nicht aufarbeite. "Schauen Sie sich das durch die deutsche Brille an - Japan lastet seine Vergangenheit wie ein Mühlstein um den Hals."

Die USA als stabilisierender Faktor der Region

Thema Nummer zwei ist Amerikas Rolle im pazifischen Puzzle. "Amerika war immer eine Macht in Asien", sagt Yeo, "das sino-amerikanische Verhältnis wird alle anderen Themen bestimmen. Würde Amerika als Ordnungsfaktor verschwinden, würde das die Region destabilisieren."

Singapurs Außenminister Yong-Boon Yeo, Foto: AP
Yong-Boon Yeo: "Wir führen hier eine Schlacht um die Seele des Islam, um die Deutungshoheit über den Koran."

​​Singapurs Außenminister meint, die Regierung in Washington verkalkuliere sich, wenn sie China als imperiale Nation wahrnimmt. "China war nie eine militärische Bedrohung für die Welt, Imperialismus gehört nicht zu den Instinkten der Chinesen, und außerdem hat das Land keine Energien nach außen zu verschenken. Die Probleme im Inneren sind zu groß."

Yeo sieht für Washington ein gewaltiges, ungenutztes Potenzial im Verhältnis zu den Staaten in Südostasien - auch wegen des hohen Anteils an Muslimen in der dortigen Bevölkerung. "Eine sympathisierende muslimische Gesellschaft ist wichtig für die USA, um den Druck aus dem Nahen Osten auszugleichen." Gleichwohl sieht er auch in Südostasien wachsenden religiösen Eifer, vor allem unter Muslimen.

Kein Kopftuch in den Schulen

In Singapur wurde erst unlängst ein Kopftuchverbot für Schülerinnen verhängt, die Nation ist sich der Verwundbarkeit ihrer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaftsstruktur wohl bewusst. "Religiosität gehört zum natürlichen Bestandteil des menschlichen Lebens", sagt Yeo. In den Vereinigten Staaten wüchsen die christlichen Gemeinden, Buddhismus und Islam erlebten eine Renaissance, "und selbst der gegenwärtige Säkularismus in Europa ist fast schon eine Religion in der Art, wie er einen universellen und dominierenden Anspruch erhebt".

In Singapur befürchtet die Regierung seit geraumer Zeit einen Anschlag islamistischer Terroristen mit dem Ziel, das multikulturelle Geflecht des Staates zu zerreißen und Unruhen zu provozieren, die wie ein Flächenbrand auf Indonesien und Malaysia übergreifen könnten. Die letzten Rassenunruhen aus den 60er Jahren sind noch in düsterer Erinnerung.

"Wir führen hier eine Schlacht um die Seele des Islam, um die Deutungshoheit über den Koran." Singapur hat wie die anderen Nationen in Asien mit muslimischer Bevölkerung eine asiatische Antwort auf den radikalen Islam entwickelt, die in Europa nicht ausreichend genug beachtet wird. Mit Hilfe einer moderaten, modernen Interpretation des Korans versuchen muslimische Gemeinden (mit starker Rückendeckung der autoritären Regierungen) jede Radikalität im Keim zu ersticken. In den Worten von Yeo heißt das: "Die guten Zellen müssen die schlechten Zellen zerstören."

Der Außenminister sieht dabei als Aufgabe für den Staat, die religiösen Führer auf den Tag vorzubereiten, an dem eine Bombe explodiert. "Was werdet ihr dann den Leuten sagen? Wie werdet ihr tun am Tag danach?" Die islamistische Bewegung sei zwar beunruhigend, aber sie werde nicht ausreichen, um den Aufstieg der Region in ihrer globalen Bedeutung zu bremsen.

"Europa ist verwirrt"

Mit Sorge sieht Yeo, wie die Europäer sich mit den islamischen Minderheiten in ihren Bevölkerungen auseinander setzen, vor allem schaut er auf die Schockwelle, die durch die dänischen Zeitungskarikaturen ausgelöst wurde. "Wir haben hier weniger hohe Ambitionen", sagt er vorsichtig, "wir erwarten nicht, dass sich alle homogen verhalten. Wir müssen nur miteinander auskommen. Vielleicht sollten alle ihre Ziele runterschrauben und die Sensibilität erhöhen."

Der Karikaturenstreit erinnert ihn an den "Schuss in Sarajevo", das Attentat also auf den österreichisch- ungarischen Erzherzog im Juni 1914, das letztlich lang aufgestaute Aggressionen freisetzte und den ersten Weltkrieg auslöste. Ob Europa in der Auseinandersetzung mit dem Islam seinen Kompass verloren habe?

"Europa hängt zwischen seiner Vergangenheit und der Zukunft. Die Vergangenheit war der Kalte Krieg, die Aufgabe war definiert. Jetzt geht Europa durch eine Phase intensiver Verwirrung und Selbstfindung." Und fast schon bemitleidend: "Europas Werte waren für eine andere Zeit geschaffen. Sie müssen harte Entscheidungen treffen."

Stefan Kornelius

© Süddeutsche Zeitung 2006

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