Spaltung zwischen Laizisten und Religiösen

Der Ausgang des Referendums über die EU-Verfassung am 29. Mai in Frankreich lässt sich kaum vorhersagen. Auch die Positionen der französischen Muslime sind keineswegs einheitlich, wie Bernhard Schmid berichtet.

​​So manches Familientreffen artet in Streit aus, in der Mittagspause teilen sich an vielen Arbeitsplätzen Befürworter und Gegner in getrennte Gruppen auf, die wild geklebten Plakate der einen Seite sind am nächsten Tag von denen der anderen Seit überklebt. Kein Zweifel: Frankreich befindet sich im Abstimmungskampf.

Wird das Ja oder das Nein zur Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags am 29. Mai die Mehrheit erhalten? Das bleibt schwer vorauszusagen, denn seit Anfang des Monats zeigen die Umfragen mal die Befürworter des Verfassungsvertrags und mal die Verfechter seiner Ablehnung in Führung.

Aber wie verhalten sich in diesem Abstimmungskampf die rund vier Millionen in Frankreich lebenden Muslime bzw. Menschen mit muslimischem Familienhintergrund?

Zunächst einmal genau wie der Durchschnitt der sonstigen Bevölkerung: Befürworter und Anhänger sind gleichermaßen vertreten. Soweit sie - als in Frankreich geborene Söhne und Töchter oder Enkel von Immigranten - das Wahlrecht haben, werden sie sich auf beide Lager verteilen.

Besonderes Augenmerk könnte man dem kollektiven Verhalten jener - politischen oder sozialen, laizistischen oder religiösen - Vereinigungen widmen, in denen besonders viele Einwanderer oder Immigrantenkinder und -enkel aus mehrheitlich islamischen Ländern organisiert sind. Nicht alle Organisationen haben freilich als solche Stellung bezogen.

Laizistische Organisationen

So hat eine der größten Vereinigungen maghrebinischer Migranten in Frankreich, die säkular ausgerichtete "Vereinigung von Arbeitern aus dem Maghreb in Frankreich" (Association des travailleurs maghrébins en France, ATMF) bisher keine kollektive Stellungnahme abgegeben.

Dabei dürfte freilich feststehen, dass ihre Mitglieder und Sympathisanten eher den Argumenten der Linken und alternativen Linken in Frankreich Gehör schenken dürften, die den Verfassungsvertrag überwiegend ablehnen. Denn ihre gesamte Geschichte verbindet die ATMF mit deren politischen Ideen, und viele Kampagnen für gesellschaftliche Rechte der Migranten führt die ATMF gemeinsam mit linken oder "globalisierungskritischen" Organisationen durch.

Die ebenfalls eher der Linken nahe stehende "Vereinigung der Tunesier für Bürgerrechte auf beiden Seiten des (Mittelmeer-, Anm. d. Autors) Ufers" (FTCR) dagegen hat sich stärker im Abstimmungskampf engagiert. Eines ihrer Mitglieder, Hamida Ben Sadia, unterschrieb als "Aktivistin der FTCR und des Kollektivs der Feministinnen für Gleichheit", das gegen die besondere Diskriminierung muslimischer Frauen kämpft, den "Appell der 200" vom Herbst vorigen Jahres. Dieser Aufruf von 200 Intellektuellen und Prominenten bildete den Startschuss für den Abstimmungskampf der kapitalismuskritischen Linken gegen den Verfassungsvertrag.

Ansonsten führt die FTCR zurzeit eine Kampagne für einen unionsweiten Aufenthaltsstatus der in einem der EU-Mitgliedsländer niedergelassenen Migranten durch. In ihrer Begründung führt sie an, dass 15 Millionen außereuropäischer Migranten in der EU weder durch den Maastrichter noch den jetzigen Verfassungsvertrag Rechte zugesprochen würden. Um dies zu ändern, sollten eine Million Unterschriften gesammelt werden.

Religiös orientierte Vereinigungen von Muslimen

Anders sehen dagegen die Positionen der religiös orientierten Vereinigungen von Muslimen aus. Die "Vereinigung der islamischen Organisationen in Frankreich"(Union des organisations islamiques de France, UOIF), eine der größten und zugleich - aufgrund ihrer mutmaßlichen Verbindungen zu den Muslimbrüdern - umstrittenen Organisationen, nimmt keine offizielle Position zum Abstimmungskampf ein.

Inoffiziell aber wird klar signalisiert, dass man für die Ratifizierung des Verfassungsvertrags eintrete. So engagiert sich Amar Lasfar, Leiter einer Moschee im nordfranzösischen Lille und eine der "historischen" Persönlichkeiten der UOIF, klar auf Seiten der Befürworter der EU-Verfassung und wirbt in diesem Sinne in seiner Umgebung.

Auch Dalil Boubakeur, der in den bürgerlichen Medien als "gemäßigt" bezeichnete Rektor der Pariser Zentralmoschee und derzeitige Vorsitzende des "Repräsentativrats der französischen Muslime" (Conseil français du culte musulman, CFCM), befürwortet den Verfassungsvertrag. Seine Position hängt erklärtermaßen auch mit seiner Nähe zu Präsident Jacques Chirac zusammen.

Boubakeur wünscht jedoch nicht, dass der CFCM als solcher einen Wahlaufruf zur Abstimmung erlasse, sondern erklärt, nur "in meinem persönlichen Namen" Stellung zu beziehen. Ansonsten sollten die einzelnen Mitgliedsorganisationen des CFCM ihre eigenen Positionen vertreten.

Gründe für die Pro-Position

Dafür, dass viele muslimisch-religiöse Organisationen und besonders auch die als konservativ bis reaktionär geltende UOIF so positiv zum Verfassungsvertrag Stellung beziehen, gibt es mehrere Motive. Das erste ist wohl im Text der EU-Verfassung selbst zu suchen. Diese garantiert in Artikel II-70 die freie Religionsausübung, "im Privaten wie in der Öffentlichkeit, durch Gottesdienst, Unterricht oder Begehung von Riten".

Ferner garantiert der Verfassungsvertrag das Recht auf Heirat und den Schutz der Ehe, aber enthält - wie ein Teil der französischen Linken heftig kritisiert - keine Garantie des Rechts auf Scheidung, Schwangerschaftsabbruch oder Empfängnisverhütung.

Grund ist, dass mehrere EU-Länder wie Irland, Portugal, Polen oder Malta etwa Scheidung oder Abtreibung nach wie vor verbieten. Insofern erscheint der Verfassungsvertrag gerade auch konservativen Muslimen im Zweifel besser als die vom Laizismus geprägte politische Kultur Frankreichs.

Ein zweites Motiv liegt auf der Ebene der politischen Interessen: Seit der Amtszeit des jetzigen Vorsitzenden der konservativ-liberalen Einheitspartei UMP, Nicolas Sarkozy, als Innenminister (2002 bis 2004), hat vor allem die UOIF sich stark der französischen konservativen Rechten angenähert.

Als Innenminister hatte Sarkozy den Vertretern der UOIF eine starke Repräsentation im unter ihm neu eingerichteten Repräsentativrat der Muslime garantiert. Ähnlich wie der maghrebinische Arbeiterverein der politischen Linken nahe steht, sucht nunmehr - zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit - auch die konservative Rechte nach politischen Verbündeten in der muslimischen Bevölkerung. Insofern ist die Befürwortung des Verfassungsvertrags auch der Annäherung an die bürgerlich-konservative Rechte geschuldet.

Ein manchmal zusätzlich genanntes Motiv wird von Boubaker El Hadj Amor von der UOIF in der Pariser Abendzeitung "Le Monde" formuliert: die Hoffnung, eine erstarkende EU als internationalen Gegenpol zur Macht der USA zu sehen.

Von Rechts gegen die Verfassung

Nicht zu vernachlässigen ist schließlich noch die Opposition von Rechts gegen die EU-Verfassung. Der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen sowie der rechtskatholische Nationalkonservative Graf Philippe de Villiers rufen ihre Anhänger auf, beim Referendum mit "Nein" zu stimmen. Sie betreiben ihre Abstimmungskampagne hauptsächlich damit, gegen einen zukünftigen EU-Beitritt der Türkei zu wettern, den Le Pen etwa als "trojanisches Pferd des Islam in Europa" u.ä. bezeichnet.

Beim jährlichen Aufmarsch der Le Pen-Anhänger am 1. Mai wurde in diesem Jahr vor allem "Christliches Frankreich, Islam raus" sowie "Chirac, Türkei, Hochverrat" - der Staatspräsident befürwortet eine Aufnahme der Türkei in die EU - skandiert.

Daher bezeichnen jene muslimischen Organisationen, die eine Annahme des Verfassungsvertrags befürworten, ihr Eintreten für das "Ja" auch als "Opposition gegen die Rassisten und die extreme Rechte".

Kritik von Tariq Ramadan

Unter den muslimisch-religiösen Intellektuellen schert nur einer aus, der offen als Gegner des Verfassungsvertrags auftritt: der in Genf ansässige Tariq Ramadan, der jedoch als Schweizer Staatsbürger keine offene Wahlempfehlung für die Abstimmung in Frankreich abgibt.

In einem Artikel über den Verfassungsvertrag, den er Ende April veröffentlichte, übernimmt Tariq Ramadan im Wesentlichen die Kritik an den wirtschaftsliberalen Bestimmungen der Verfassung, wie sie üblicherweise durch die politische Linke vorgebracht wird. In seinem Text kritisiert Ramadan die Macht "der Technokraten, Ökonomen und der multinationalen Konzerne".

Tariq Ramadans Strategie besteht in den letzten Jahren vor allem in einer Annäherung an das gesellschafts- und "globalisierungskritische" Milieu, wie sein - dort sehr umstrittener - Auftritt beim Europäischen Sozialforum (ESF) im Herbst 2003 in Paris belegte. Seine Position zum französischen Referendum ist konform zu dieser Entscheidung.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2005

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