Ratlose Islamisten

Tunesiens "Nahda"-Bewegung dürfte auch anläßlich ihres 26jährigen Bestehens nicht der Sinn nach Feiern stehen. Denn der Partei fehlt es an klaren politischen Zielen, Visionen und vor allem am Willen zur Veränderung. Hintergründe von Salah ad-Din al-Jourchi

Tunesiens "Nahda"-Bewegung dürfte auch anläßlich ihres 26jährigen Bestehens nicht so recht der Sinn nach Feiern stehen. Denn der Partei fehlt es an klaren politischen Zielen, Visionen und vor allem am Willen zur Veränderung. Hintergründe von Salah ad-Din al-Jourchi

Verschleierte Tunesierin vor der El-Abidine-Moschee in Karthago; Foto: AP
Aufgrund ihrer fehlenden inhaltlichen Programmatik gelingt es der Nahda immer weniger, die traditionell-muslimische Bevölkerung anzusprechen.

​​Der 26. Jahrestag der Gründung der tunesischen Nahda-Bewegung wurde überschattet von Problemen sowie der Unfähigkeit der Organisation, ihren in den 90er Jahren eingeschlagenen, politischen Pfad zu verlassen.

Verteilt über mehrere europäische Hauptstädte, verschanzen sich die führenden Köpfe der Bewegung noch immer im Ausland. Und die inhaftierten Mitglieder der Bewegung warten seit nunmehr 17 Jahren auf eine politische Entscheidung ihrer Führung.

Blockiert und handlungsunfähig

In Tunesien selbst ist die Organisation wegen der strengen Sicherheitsauflagen, die die Bewegungsfreiheit ihrer Mitglieder stark einschränken, fast völlig handlungsunfähig. Doch hofft die Nahda-Bewegung noch immer auf einen politische Entspannung - sie ist bereit, einen Schluss-Strich unter ihre Vergangenheit zu ziehen.

Das tunesische Regime hat sich seines politischen Gegners, der früh die Absicht erkennen ließ, sich an die politische Realität anzupassen, zum großen Teil entledigt.

Hierzu bot die Bewegung dem Regime auch genügend Gelegenheit: So beschloss die Führung der Nahda-Bewegung, unmittelbar nach ihrer überstürzten Teilnahme an den ersten gesetzgebenden Wahlen, die im April 1989 unter Präsident Ben Ali abgehalten wurden, den Konflikt eskalieren zu lassen. Die Aufstellung der Bewegung zur Wahl hatte bei allen Beteiligten Ängste geweckt – nicht nur in Tunesien, sondern auch im Ausland.

Stillschweigend waren sich die Machthaber in Tunis darin einig, diese Kraft zu kontrollieren, da sich das Land ein Abdriften in unkalkulierbare Abenteuer nicht leisten könne – noch dazu, wenn weder die regionalen, noch die staatlichen Führer in den arabischen Maghrebstaaten dies unterstützten.

Zwar gelang es dem Regime, die Organisation im Inland zu spalten und auszuschalten, endgültig konnte sie jedoch nicht beseitigt werden. Der Nahda-Bewegung kam dabei zu Gute, dass sich viele ihrer führenden Köpfe im Ausland aufhielten, die meisten von ihnen scharten sich um den Führer der Bewegung, Scheich Rashid al-Ghannoushi.

Gegenstrategien der Nahda

Die Bewegung konnte aber vor allem deshalb nicht völlig zerschlagen werden, da sie – anders als die islamischen Heilsfront (FIS) in Algerien – Gewalt als politisches Mittel ablehnt. Dass die Nahda-Bewegung sich für die Gewaltfreiheit entschieden hatte und keine doppelbödigen Strategie verfolgte, war die taktisch richtige Entscheidung.

Dies wiederum hatte zur Folge, dass die europäischen Regierungen der Forderung der tunesischen Behörden nach Auslieferung von Mitgliedern der Nahda-Bewegung nicht nachkamen, die in Tunesien als Terroristen galten. Auch erhielten die Mitglieder dank ihres Gewaltverzichts politisches Asyl im Ausland. So konnte die Bewegung ihre Aktivitäten fortsetzen und ihre organisatorischen Strukturen von dort wieder aufbauen.

Tunesiens Präsident Ben Ali; Foto: AP
Trotz einiger politischer Erfolge gegen die Nahda hat Tunesiens Präsident Ben Ali die islamistische Bewegung nicht vollständig beseitigen können.

​​Die Regierung scheiterte auch mit dem Vorhaben, die Bewegung politisch zu isolieren. Anfangs konnte sich das Regime zwar mit den meisten Oppositionskräften darüber einigen, die Islamisten auszuschalten. Doch gelang des Nahda in der Folgezeit, ihrer alten Beziehungen zu einem Teil der Oppositionsparteien erneut weiter auszubauen.

Ein Grund dafür war auch die Entlassung einiger inhaftierter Anführer der Bewegung, die sich beharrlich um die Anerkennung ihres Rechts auf politische Betätigung bemüht hatten. Dies trug auch entscheidend zur Gründung der "Koalition des 18. Oktober" bei, die der Kern eines politischen Bündnisses mehrerer Oppositionsparteien ist.

Trotz ihres Durchhaltevermögens, der erfolgreichen Durchbrechung ihrer Isolation und der Annäherung an diverse politische Kräfte, ging die Nahda-Bewegung dennoch geschwächt aus ihrem Kampf mit dem Regime hervor.

Viele Kadermitglieder verließen die Bewegung still und heimlich. Einige aus persönlichen Gründen, bei den meisten waren organisatorische Faktoren ausschlaggebend. Manche beschlich das Gefühl, sie gehörten einer Organisation an, die weder einen strategischen Plan, noch Zukunftsperspektiven habe.

Seit einiger Zeit gibt es Anzeichen einer Auflehnung gegen die ideelle und symbolische Führung der Bewegung. Und auf den einschlägigen Websites erscheinen Texte, die das vorherrschende Klima in der Bewegung scharf kritisieren.

Zweifel an der Symbolfigur

Außerdem wurde al-Ghannoushi, Symbolfigur und Gründer der Bewegung, von früheren Kader-Funktionären heftig kritisiert. Inzwischen halten viele Mitglieder al-Ghannoushi nicht mehr für fähig, die Bewegung aus ihrem gegenwärtigen Dilemma zu führen und in eine moderne, schlagkräftige Partei zu verwandeln.

Dass al-Ghannoushi auf der letzten Konferenz nur 60 Prozent der Stimmen bekam, ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Periode der Einigkeit vorüber ist und die Suche nach Alternativen begonnen hat.

Als die Führung der Bewegung die Erklärung der "Koalition des 18. Oktober" anlässlich des Weltfrauentags absegnete, entbrannte innerhalb der Nahda-Bewegung ein heftiger Disput, an dem sich einige Kadermitglieder sowie regionale Anführer der Bewegung außer Landes beteiligten.

Dies macht die Distanz zwischen den Mitgliedern dieser Organisation deutlich. Tatsächlich gleicht die Nahda eher einem Zusammenschluss von Individuen und einzelner Gruppierungen, als einer Partei, die ein politisches Programm und eine gemeinsame gesellschaftliche Vision hat.

Angst vor programmatischer Weichenstellung

Noch immer fürchtet die Nahda, sich in intellektuelle Auseinandersetzungen zu verstricken, die die traditionelle islamistische Doktrin antasten, aus der Gruppen wie die Muslimbrüder oder auch tunesische islamistische Organisationen schöpfen. Noch immer scheut die Bewegung die programmatische Auseinandersetzung zugunsten der politischen Arbeit, der sie Priorität einräumt.

Das Ausweichen vor einer grundlegenden Entscheidung in vielen Bereichen und die Vermischung eines Strebens nach Erneuerung – abgesehen vom Festhalten an den Prinzipien der salafitischen Schule – haben in der Struktur der Bewegung deutliche Spuren hinterlassen. Man hat es versäumt, zwischen den wesentlichen Merkmalen einer religiösen Gruppierung und den Besonderheiten einer politischen Partei klar zu unterscheiden.

Die Nahda-Bewegung setzt sich nicht deutlich genug mit dieser Problematik auseinander, von der sich beispielsweise die türkischen Islamisten durch die Erfahrungen mit der AKP freimachen konnten, die ägyptische "Wasat"-Partei oder ein Teil der marokkanischen Islamisten, wie beispielsweise die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" oder die "Zivilisatorische Alternative".

Vor diesem Hintergrund muss man die methodologische Krise und die Unklarheit des politischen Programms der Bewegung verstehen. Ihre Parolen sind fast identisch mit den Forderungen und Parolen der demokratischen Bewegung in Tunesien. Geht man jedoch ins Detail, werden die fehlenden modernen und fortschrittlichen politischen Alternativen in Form und Inhalt klar ersichtlich.

Der Einfluss des Salafismus

Es steht zu befürchten, dass dieser Problemsituation andauern wird. Die Macht innerhalb der Bewegung liegt nach wie vor beim konservativen Flügel. Beachtlich ist hier auch der Salafismus, der sich in den letzten Jahren in Tunesien ausgebreitet hat. Seine Anhänger üben Druck aus und bremsen jegliche intellektuelle Auseinandersetzung innerhalb der regionalen islamistischen Bewegungen.

Kein neutraler Beobachter kann sich mit der politischen und kulturellen Zukunft Tunesiens befassen, ohne dabei die Nahda-Bewegung auszulassen. Trotz ihrer immanenten Schwäche darf ihre Bedeutung für das Land nicht unterschätzt werden

Wenn sich aber die Bewegung nicht ernsthaft mit ihrer schwierigen Lage Situation auseinandersetzt und nicht wirklich eine inhaltliche Erneuerung ins Auge fasst, wird sie die Fehler der Vergangenheit wiederholen – zum Schaden der Partei, der vielleicht noch größer ausfallen könnte als früher.

Schlimmer noch, sie wird sich von der einen oder anderen Seite kooptieren lassen, um Ziele und Interessen durchzusetzen, die womöglich den Interessen des Landes und denen des tunesischen Volkes widersprechen.

Salah ad-Din al-Jourchi

© Qantara.de 2007

Salah ad-Din al-Jourchi ist tunesischer Publizist und Islamismus-Experte.

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

Qantara.de

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