Europa darf die Türkei nicht abweisen!

Im Europawahlkampf machen die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei die Frage zu einem wichtigen Thema. Doch Europa kann es sich nicht leisten, die Türkei zurückzuweisen, weil die EU dadurch ihren Einfluss auf die Demokratisierung des Landes verringern würde, meint Baha Güngör.

Im Europawahlkampf machen Gegner eines EU-Beitritts der Türkei diese Frage zu einem zentralen Thema. Doch Europa kann es sich nicht leisten, die Türkei zurückzuweisen, denn die EU würde sich dadurch der Möglichkeit berauben, die Demokratisierung in der Türkei zu beeinflussen, meint Baha Güngör.

Foto: AP

​​Ein Europa ohne die Türkei ist undenkbar, lautete die Position der Unionsparteien noch in den 80er Jahren, als das Land nach dem Ende der Militärherrschaft wieder salonfähig wurde.

Doch das ist für die Konservativen "politischer Schnee von gestern". Heute sagt die CDU/CSU bei einer weiteren Annäherung der Türkei den völligen Zusammenbruch der Europäischen Union voraus.

Stattdessen kämpfen jetzt ausgerechnet Sozialdemokraten und Grüne für einen EU-Beitritt der Türkei, der für sie vor einem Jahrzehnt wegen der Menschenrechtslage und der Minderheitenpolitik Ankaras noch undenkbar gewesen war. Viele Beitrittsgegner wollen die Türkei zum Thema im Europawahlkampf machen. Zu der dringend nötigen Versachlichung der Debatte wird das nicht führen.

Annäherung an europäische Werte notwendig

Fakt ist, dass die Türkei seit 1963 assoziiertes Mitglied der Europäischen Union ist. Damals war dem Land an der Peripherie Europas bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen der Beitritt zugesagt worden.

Es stimmt, dass aus der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs Mitgliedern heute eine Europäische Union mit 25 Mitgliedern geworden ist.

Doch gerade weil die EU wächst, ist die weitere Annäherung der Türkei an die Werte und Normen Europas so wichtig. Denn diese Annäherung beeinflusst zugleich Europas Verhältnis zu anderen Kulturen und Religionen.

Und: Die Akzeptanz von Werten wie Demokratie, Menschenrechten, Minderheitenschutz und Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen in der Türkei wird auch dadurch bestimmt, ob Europa selbst sich gegenüber der Türkei diesen Werten entsprechend verhält.

Das Argument, das von Beitrittsgegnern mitunter vorgebracht wird, die Türkei passe als islamisches Land nicht in die EU, ist vorgeschoben. Denn dass die Türkei eine fast ausschließlich islamische Bevölkerung hat, ist wahrlich nicht neu.

Diese Bevölkerung, die den EU-Kurs mit überwiegender Mehrheit befürwortet, setzt sich aus vielen ethnischen Gruppen zusammen und hat die Koexistenz von pluralistischer Demokratie und einem weltlich orientierten Islam verwirklicht. Gerade deshalb darf der Pfad der Türkei nach Europa nicht mit Hindernissen verbaut werden.

Weist die EU die Türkei ab, beraubt sie sich der Möglichkeit, Einfluss auf die Demokratisierung dort zu nehmen. Und in der islamischen Welt würde das Modell Türkei deutlich an Attraktivität verlieren. Europa kann es sich nicht leisten, ein Land, das wie kein zweites Islam und Demokratie miteinander vereinbart, nicht mit allen Mitteln zu unterstützen.

Unerfüllte Kriterien

Natürlich ist es kein Geheimnis, dass die Türkei von ihrem 1987 beantragten Beitritt noch weit entfernt ist. Das wird auch unter dem türkischen Halbmond offen zugegeben. Denn trotz der Beschleunigung der Reformen unter der Regierung von Recep Erdogan hapert es noch mit der Verwirklichung vieler Verfassungs- und Gesetzesänderungen.

Auch wirtschaftlich erfüllt die Türkei noch längst nicht die Kriterien, um sich Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt zu machen. Wichtig aber ist, dass auf beiden Seiten der Wille erkennbar bleibt.

Nicht zuletzt geht es auch um die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit und Kreditwürdigkeit der Türkei. Solange die Beitrittsperspektive besteht, werden Investitionen in die Türkei fließen. Das wiederum schafft Arbeitsplätze, unterstützt Sanierungsprogramme und den Kampf gegen die Inflation.

"Privilegierte EU-Partnerschaft" nicht ausreichend

Eine "privilegierte Partnerschaft" mit der EU, wie sie die CDU-Vorsitzende Angela Merkel der Türkei angeboten hat, reicht nicht. Denn diese Privilegien genießt die Türkei schon seit mehr als 40 Jahren.

Eine andere Frage ist freilich, ob Ankara eines Tages im Verlauf der Beitrittsverhandlungen selbst auf den Gedanken kommt, eine "privilegierte Partnerschaft" könnte besser sein, als sich vollständig der EU zu unterwerfen und dabei auf weite Teile der eigenen Souveränität zu verzichten.

Baha Güngör

© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 05/2004

Baha Güngör arbeitet seit 1976 für deutsche Medien im In- und Ausland. Seit 1999 leitet er die türkische Redaktion der Deutschen Welle.

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