Ein Prisma der Spiritualität

In Jordanien gewinnt der Sufismus an Boden und zieht sogar Suchende aus anderen Ländern an, sowohl Konvertiten als auch Menschen muslimischen Ursprungs. Michael Gunn entdeckte in Amman unterschiedliche Interpretationen des Sufismus.

Dar al-Iman-Moschee in Amman; Foto: Michael Gunn
Die Stiftungsmoschee Dar al-Iman unter der Leitung von Sheikh Husni Ash-Shareef vom Khalwatia-Orden in Amman unterhält mehrere Waisenhäuser.

​​ Es beginnt mit tiefen Atemzügen und dem leichten Beugen der Knie. Ein paar Dutzend Männer bilden einen Kreis und halten einander an den Händen. Sie wiegen sich vor und zurück im Rhythmus der Gesänge heiliger Verse. Plötzlich erhebt sich eine kleine Gruppe vom roten Teppich und springt in die Höhe, mit heiteren Gesichtern und wallenden weißen Kaftans.

Dies ist die markanteste Form des hadra, des Gedenkens an Gott, das in den zawiyat (Zentren, Versammlungshäuser) der Sufis in der jordanischen Hauptstadt praktiziert wird. Nach Jahrzehnten des Argwohns gewinnt der Sufismus, tasawwuf auf Arabisch, allmählich an Boden in Amman – ein Zeichen dafür, dass die Betonung der Selbstverbesserung im Sufismus eine gefühlvolle und wahrhaft islamische Lebensweise in einer sich verändernden Stadt bietet, sagen seine Anhänger.

Reinigung des Herzens

"Sufismus ist eine starke und dynamische spirituelle Tradition", sagt Samer Dajani, ein regelmäßiger Teilnehmer der Versammlungen. "In der heutigen Welt leiden die Seelen der Menschen. Sie brauchen Spiritualität und eine Rückkehr zum Göttlichen."

Sheikh Husni Ash-Shareef; Foto: Michael Gunn
Sheikh Husni Ash-Shareef: "Sheikh Husni lehrt uns, uns ausschließlich Allah zu unterwerfen und jedem Menschen Frieden zu schenken", sagt Sultan Aswad.

​​ Diese Rückkehr ist das Ziel des Sufismus, dessen Anhänger versuchen, durch Gottesdienste und gute Taten Gott nahe zu sein. Sufis sprechen von drei Stufen: islam (Befolgen der fünf Säulen), iman (Glaube) und ihsan – das Streben nach Selbstperfektion. Letzteres geschieht durch körperliche Übungen und dhikr , Rezitation, in einem Prozess spiritueller und ethischer Entwicklung bis hin zu einem Zustand, in dem die Liebe Gottes in jeder Handlung des Gläubigen greifbar ist.

"Der Sufi legt großen Wert auf Handlungen und führt diese in ihrer wahrhaftigsten Form aus", sagt Sheikh Al-Abaadila, der Gottesdienste nach der Shadhili-Methode leitet.

Der Sufismus wird oft als islamischer Mystizismus beschrieben und in 'Wegen' (tariqa, pl. tariqat) gelehrt, deren Überlieferung auf den Propheten zurückgeht und die heute von angesehenen Sheikhs weitergegeben werden. Obwohl es hunderte von tariqat gibt, sind sich die meisten Sufis einig, dass es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Hauptrichtungen gibt.

"Alle sind auf der Suche nach Wahrheit und alle sind gut", sagt Sheikh Majed, ein Mitglied des Naqshbandi-Ordens. "Sie wenden unterschiedliche Methoden zur Reinigung des Herzens an, aber mit dem gleichen Ziel."

Das freundliche Wesen der Anhänger (murid, pl. muridun) und die Betonung von Liebe und Vereinigung hat viele dazu veranlasst, den Sufismus als eine Art 'sanften Islam' zu bezeichnen.

Diese Definition ist problematisch – die Sufis von Amman kritisieren zwar gewalttätige Interpretationen ihres Glaubens aufs Schärfste, aber sie widersetzen sich auch Bestrebungen, diese gegen den Mainstream-Islam abzugrenzen, sei es durch Theologen oder seitens der US-amerikanischen RAND Corporation, die vorschlug, den Sufismus zur Stärkung der globalen Sicherheit zu fördern.

Spirituelle Anziehungskraft

Gleichwohl ist es oft die Exotik, die das Interesse ausländischer Besucher weckt. Zakarya Rahman, ein Student aus London, hat auf einer Backpacker-Tour durch Jordanien in diesem Sommer Sufi-Versammlungen besucht. "Das ist etwas, was ich in meiner Kindheit schlichtweg nicht kennengelernt habe", sagt er. "Der Sufismus bietet eine spirituellere Seite des Islam, die besser zum Leben im 21. Jahrhundert passt, in der Religion eher eine Privatangelegenheit ist."

Stadtansicht von Amman; Foto: Creative Commons
Wiederentdeckung der Jahrhunderte alten Sufi-Tradition: Die Anhänger des Sufismus sehen in ihm eine gefühlvolle und wahrhaft islamische Lebensweise in einer sich verändernden Stadt.

​​ Ausländer entscheiden sich meist aufgrund der Empfehlungen der muslimischen Gemeinschaften in ihrer Heimat oder im Internet für eine bestimmte tariqa in Amman. Ganz offensichtlich ist das in Kharabscheh, einem Vorort im Norden von Amman. Dort hat die relativ große Sufi-Gemeinde von Sheikh Nuh Keller ihren Sitz, einem amerikanischen Konvertiten und Sufi-Gelehrten.

Seine muridun – viele von ihnen sind Konvertiten aus Europa oder Nordamerika – befolgen strikte Kleidungsvorschriften, klare Regeln für soziale Kontakte und widmen viele Jahre einem Leben unter seiner Anleitung, dem Lernen der arabischen Sprache und der Gründung lokaler Geschäfte.

Sheikh Keller meidet die Öffentlichkeit, doch seine Schriften und seine Kenntnisse der westlichen Philosophie (die er scharf kritisiert) verschaffen ihm Anhänger auf der ganzen Welt. "Als Amerikaner ist er wie eine Brücke für ausländische Suchende", sagt einer seiner muridun.

Stereotypen und negative Konnotationen

Der Sufismus führt in Jordanien einen harten Kampf gegen den Salafismus und den Wahhabismus, die die religiösen Einstellungen beeinflussen und Sufi-Praktiken als unislamisch betrachten.

"Das Wort Sufi ist in der muslimischen Geschichte zum Teil negativ konnotiert", sagt Dr. Mohammed Rayyan, Dozent für Islamwissenschaften an der University of Jordan. "Wenn die Leute den Begriff tasawwuf hören, denken sie direkt in Stereotypen." Doch viele Vorurteile sind unberechtigt, sagen örtliche Gelehrte.

Die große Mehrheit der tariqat in Amman respektiert die allgemein anerkannten Einschränkungen der Sunna, so zum Beispiel die Geschlechtertrennung, den Gebrauch von Musikinstrumenten oder das Tanzen während der hadra an sich.

Manche beschuldigen die arabische Populärkultur, ein Zerrbild des Sufismus zu verbreiten, andere verweisen auf das irreführende Beispiel des 'Trendy Sufism' der Oberschicht-Kinder, die mittels Musik und Drogen eine Art Hippy-Islam zelebrieren. Der kürzlich ins Leben gerufene erste Sufi-Fernsehsender Jordaniens soll das Bild wieder gerade rücken.

Loslösung von der Ichbezogenheit

Sufi-Gemeinschaften werden oft für ihre Abschottung nach außen kritisiert, aber in Amman sehen viele im Sufismus eine Verstärkung der koranischen Aufforderung zu sozialer Beteiligung. Dar al-Iman in Ammans westlichem Stadtteil Al-Bayader ist ein waqf (religiöse Stiftung, Wohlfahrtsprojekt) mit Moschee, Koranschule und zawiya, es unterhält außerdem mehrere Waisenhäuser und hat rund 50 Mitarbeiter unter der Leitung von Sheikh Husni Ash-Shareef vom Khalwatia-Orden.

Dhikr-Ritual im Sudan; Foto: Creative Commons
Dhikr-Ritual im Sudan: Die jordanischen Sufis sehen die Loslösung von der Ichbezogenheit als Schlüssel zu sozialem Wandel.

​​ "Sheikh Husni lehrt uns, uns ausschließlich Allah zu unterwerfen und jedem Menschen Frieden zu schenken", sagt Sultan Aswad, Abteilungsleiter des Instituts.

Sadique Pathan, ein Sozialarbeiter aus Kanada, studiert die Scharia in Jordanien and ist Mitglied im Naqshbandi-Haqqani-Orden. In seiner Masterarbeit untersucht er den Nutzen islamischer Spiritualität für Gruppentherapien.

"Wir wollen einen Zustand erreichen, in dem wir unseren Glauben an Gott in jeder Handlung verwirklichen können, ihn von unseren eigenen, egozentrischen Neigungen lösen", sagt er. "Die meisten Leute tun Dinge nur zu ihrem eigenen Vorteil, doch die höchste Stufe für einen Menschen besteht darin, etwas für ein höheres Wesen zu tun."

Für Pathan ist die sufische Loslösung von der Ichbezogenheit der Schlüssel zu sozialem Wandel, insbesondere um der fortschreitenden Akzeptanz des ungehemmten Kapitalismus in Jordanien zu begegnen.

Es ist vor allem diese wohltätige Arbeit, die ein breiteres Verständnis des Sufismus in Jordanien mehr als alles andere fördern könnte. "Wir zeigen den Islam allein durch unsere Handlungen – andere sehen dies und können sich für den Wandel entscheiden", sagt Sultan Aswad.

Die Verbreitung des Glaubens durch gutes Beispiel beeindruckt auch Suchende aus dem Ausland. Durch die Perfektionierung des eigenen Charakters, Mitgefühl und gute Taten, bemerkt Zakarya Rahman, kann ein Sufi "überzeugender als jeder Prediger" sein.

Michael Gunn

© Qantara.de 2010

Übersetzung aus dem Englischen: Sabine Kleefisch

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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