Cyber-Islam und Online-Fatwas

Vermehrt nutzen auch islamische Verbände die Möglichkeiten des World Wide Web. In ihrer Studie "Islam goes Internet. Websites islamischer Organisationen im World Wide Web" zeigt Alev Inan die aktuelle Entwicklung auf. Mit ihr sprach Götz Nordbruch.

Vermehrt nutzen auch islamische Verbände die Möglichkeiten des World Wide Web. Dabei verlieren die Nutzer oft den Überblick: Wer steht hinter den Webseiten und welchen Hintergrund haben sie? In ihrer Studie "Islam goes Internet. Websites islamischer Organisationen im World Wide Web" zeigt Alev Inan die aktuelle Entwicklung auf. Götz Nordbruch hat sich mit ihr unterhalten.

Betender Muslim am Computer; Foto: AP
Das Internet stellt auch für tief gläubige und konservative Muslime eine moderne Form der Kommunikation dar. Und es erweitert den Einflussbereich islamischer Organisationen ungemein, so Alev Inan.

​​Frau Inan, in Ihrer Studie zeigen Sie, dass islamische Verbände in Deutschland immer häufiger auch im Internet präsent sind. Mit dem "Hinterhof-Islam", der lange Zeit den Islam in Deutschland prägte, hat dies kaum mehr etwas zu tun. Was steckt hinter dieser neuen Sichtbarkeit?

Alev Inan: Das Internet ist "hip" und "modern" – das sehen auch Muslime so. Religiös-konservative Islamverbände haben in der letzten Zeit über das Internet deutlich an Einfluss gewonnen. Denn eine Webseite suggeriert Transparenz und Aufgeschlossenheit, ohne dass damit schon etwas über die Inhalte ausgesagt ist.

Doch die "neue Sichtbarkeit" im Internet bedeutet ja nicht automatisch, dass sich die Verbände auch inhaltlich modernisiert haben. Oft finden sich heute die gleichen ultra-konservativen Inhalte, die vorher in Hinterhofmoscheen gepredigt wurden, schön verpackt online. Die Herausforderung für Einrichtungen, die nach islamischen Dialogpartnern suchen, besteht darin, sich davon nicht blenden zu lassen.

Islam.de ist ein solches Portal, das vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) betrieben wird. An wen richten sich solche Angebote? An die Mitglieder der Verbände oder an die nicht-islamische Öffentlichkeit?

Inan: Der Webauftritt des ZMD ist ein Beispiel dafür, dass sich viele dieser Seiten auch an die nicht-islamische Öffentlichkeit wenden. Die Analyse der Webinhalte hat gezeigt, dass die Betreiber des Portals darauf bedacht sind, den ZMD als die Vertretung des Islam in Deutschland darzustellen.

www.islam.de ist dabei unglaublich geschickt gewählt. Bei der Eingabe des Suchbegriffes "Islam" erscheint die Website gleich unter den ersten Treffern. Unkundige Internetuser halten die Seite des ZMD, dessen Mitgliederzahl auf nur etwa 20.000 Personen geschätzt wird, trotzdem für repräsentativ. Der Verband besitzt daher – trotz seiner relativ kleinen Größe – gegenüber den Konkurrenzverbänden eine große Definitionsmacht über religiöse Inhalte. Auch darum geht es bei den Online-Angeboten.

Im Internet finden aber auch Meinungen Gehör, die früher kaum zu vernehmen waren. Gilt das auch für die islamische Vereinslandschaft in Deutschland?

​​ Inan: Das Internet erweitert den Einflussbereich der islamischen Organisationen ungemein. Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Der Stadtrat einer mittelgroßen Stadt in Bayern lädt die verschiedenen Religionsgemeinschaften zu einem "interreligiösen Dialog" ein. Zu Beginn der groß angelegten Veranstaltung zitiert dann einer der Verantwortlichen wie selbstverständlich von der Webseite des Islamrats, weil er annahm, die Aussagen des Islamrats seien die "offizielle" Position der Muslime zu diesem Thema.

Er hat das Ganze schließlich auf einer gut gemachten Seite im Internet gefunden. Dabei war ihm nicht klar, dass der Islamrat zum Beispiel wegen seiner Verbindung zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) sehr umstritten ist, denn die IGMG wird seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. So wurde plötzlich ein Verband – in diesem Fall der Islamrat – durch sein Internet-Angebot zum alleinigen Repräsentationsorgan der Muslime.

Man sollte also aufpassen, wenn man "mal eben schnell" ins Netz geht, um sich Informationen über den Islam zu besorgen.

Andererseits sollte dies nicht dazu führen, dass man im Internet nur noch Gefahren sieht. Auf anderen islamischen Websites geht es auch um Aufklärung und Information.

In jüngster Zeit ist viel von "Scheikh Google" die Rede, also davon, dass sich immer mehr Muslime mit religiösen Fragen an islamische Internet-Foren wenden statt an religiöse Gelehrte in den Moscheen. Welchen Stellenwert haben diese Foren Ihrer Ansicht nach für die religiöse Orientierung der Muslime?

Inan: Dazu gibt es bisher kaum Forschungen. Es ist zum Beispiel noch weitgehend unklar, welche Bedeutung sogenannte Online-Fatwas im religiösen Alltag von Muslimen wirklich haben.

Grundsätzlich sind solche Foren natürlich eine Möglichkeit, islamische Werte zu vermitteln. Wichtig ist aber, dass die Betreiber dafür sorgen, dass die Inhalte einer Integration des Islam in Deutschland nicht entgegenstehen. Es darf nicht sein, dass das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen hier beeinträchtigt wird.

Denn ein extremes Beispiel dafür, was radikale Inhalte im Internet bewirken können, ist der Fall der "Kofferbomber". Die zwei jungen Männer haben im Internet nach einer Fatwa gesucht, mit der sie das Töten von Zivilisten legitimieren konnten. Nachdem sie eine solche Fatwa gefunden hatten, deponierten sie im Juli 2006 zwei Bomben in Regionalzügen auf der Strecke Dortmund-Koblenz.

Auch der so genannte "Pop-Islam" ist im Internet sehr präsent. Was bedeutet die Cyber-Community für junge Muslime?

Aufnahme einer Überwachungskamera auf dem Kölner Hauptbahnhof; Foto: AP
Das Bild einer Überwachungskamera zeigt einen der "Kofferbomber" im Juli 2006 auf dem Kölner Hauptbahnhof. Wegen eines technischen Fehlers explodierten die Bomben jedoch nicht.

​​Inan: Besonders bei den Angeboten für junge Muslime ist es wichtig, auf die Inhalte zu achten. Man muss sich fragen, welche Auswirkungen diese Angebote auf die Heranwachsenden haben. Eine Sorge ist, dass sich durch eine strenge Islamauslegung auf diesen Seiten die Konflikte im Bildungs- und Erziehungsbereich verschärfen. Zum Beispiel mit Blick auf die Zahl der Befreiungen vom Schwimm- und Sportunterricht oder von Klassenfahrten.

Gerade muslimische Mädchen sind von rigiden Islamauslegungen betroffen. Es gibt daher die Befürchtung, dass hier von konservativen Vereinen eine Erziehung zur Unmündigkeit betrieben wird. Wenn die Cyber-Communities Einstellungen und Verhaltensweisen fördern, die ein selbstbestimmtes Leben erschweren, dann helfen auch die Worte "Cyber" und "Pop" nicht viel weiter. Denn die muslimische Jugend wird mit einem liberalen Lebensstil im deutschen Alltag nicht zurechtkommen.

Dennoch ist das Spektrum der islamischen Seiten im Internet ist groß. Es reicht vom Multimedia-Portal "Waymo" bis hin zu salafitischen Angeboten. Ist dies ein Zeichen für einen neuen Pluralismus innerhalb der islamischen Community?

Inan: Bei allen Vorbehalten ist das Internet natürlich ein wunderbares Medium. Gerade in der Anfangszeit wurde das Internet gefeiert, weil eine Vielfalt an Meinungen und Strömungen nebeneinander existieren kann.

Mittlerweile ist auch mit Blick auf den Islam die Euphorie etwas abgeklungen, weil man durch die Informationsflut auch leicht den Überblick verliert – die Veranstaltung zum interreligiösen Dialog, bei der der Islamrat plötzlich als die Vertretung des Islam vorgestellt wurde, ist da nur ein Beispiel. Ein kritisches Hinterfragen ist heute mehr denn je gefragt, auch was islamische Seiten angeht.

Interview: Götz Nordbruch

© Qantara.de 2008

Dr. Alev Inan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Passau. Sie ist Autorin der Studie "Islam goes Internet. Websites islamischer Organisationen im World Wide Web" (Tectum Verlag Marburg, 2007).

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