Identitätszerfall im Zauberland

Der Maghreb droht aufgrund schlechter Regierungsführung und unter dem Druck der Globalisierung die Einzigartigkeit seiner Kultur und Tradition zu verlieren, schreibt Beat Stauffer in seinem Essay.

Straßenszene in Tanger; Foto: dpa
Gefangen zwischen Urbanisierung, Kommerzialisierung und gesellschaftlicher Entwurzelung: Nordafrika droht seine "Seele" zu verlieren.

​​Lange galten die Länder des Maghreb als Sehnsuchtsziel für europäische Reisende, und Künstler wie Paul Klee oder Eugène Delacroix erfuhren wesentliche Anregungen unter der brennenden Sonne Nordafrikas.

"Maghreb! Dieses Wort hat einen unbeschreiblichen Zauberklang für mich", schrieb der französische Schriftsteller Pierre Loti gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Doch was ist von diesem "Zauberland" noch geblieben – jenseits touristischer Klischees? Was haben sich die Länder des Maghreb von ihrer Einzigartigkeit, von ihrem reichen kulturellen Erbe bewahren können? Und was ist in der stürmischen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte unwiderruflich verloren gegangen?

"Etoile du Nord" – eine Erfolgsgeschichte

In einer kleinen Sackgasse, mitten in der labyrinthischen Altstadt von Fes, hat ein aus dem Irak stammender Architekt eine neue Heimat und ein spannendes Tätigkeitsfeld gefunden. Nur einen Steinwurf von der berühmten Qaraouiyyne-Moschee entfernt, haben Alaa Said und seine Partnerin Kate Kvalvik ein sechshundertjähriges Haus behutsam restauriert und in ein Gästehaus verwandelt.

Alaa hat sich nach einem Architekturstudium und einem zwölfjährigen Aufenthalt in Norwegen entschlossen, in ein arabisches Land zurückzukehren. In der Altstadt von Fes konnte er ein prächtiges Hofhaus erwerben und in mehrjähriger Arbeit restaurieren.

Dabei war es Alaa ein großes Anliegen, die einmalige architektonische Qualität und alle noch vorhandenen ursprünglichen Bauelemente zu erhalten. Es ist ihm gelungen, die von Staub und Verfall gezeichnete Schönheit des Gebäudes wieder hervorzuholen – mit einer puristischen Haltung, die sich höchst wohltuend vom überladenen Stil vieler zeitgenössischer arabischer Architekten abhebt.

Stadtpalast von Fes; Foto: Beat Stauffer
Nach Jahrzehnten des Laissez-faire will man nun in der Medina von Fes zumindest die wertvollsten Baudenkmäler zu retten: der unrenovierte Stadtpalast von Fes

​​ Rund 1.500 Kilometer weiter östlich, im Stadtzentrum von Tunis, liegt unweit vom Hafen ein kleines Kulturzentrum, das den Namen "Etoile du Nord" trägt. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von Noureddine El Ati, einem aus Tunesien stammenden Regisseur und Schauspieler, der sich nach langen Jahren in Frankreich und Belgien entschloss, wieder in seine Heimat zurückzukehren.

In einer ehemaligen Garage fand El Ati einen geeigneten Ort, um seine ambitiösen Pläne zu verwirklichen: einen für verschiedene kulturelle Aktivitäten verfügbaren Mehrzweckraum sowie eine Cafeteria als Ort der Begegnung.

Seit beinahe 13 Jahren steht die "Etoile du Nord" dem Publikum offen. Es ist eine Erfolgsgeschichte: Obwohl das Zentrum fast ohne staatliche Subventionen auskommen muss, hat es sich bis heute halten können, und die Besucherzahlen sprechen für sich.

Freiraum in einer traditionellen Gesellschaft

Immer gut besetzt ist die großzügige Cafeteria, in der den Benutzern, sofern sie nicht ihre eigenen Laptops mitbringen, mehrere Computer zur Verfügung stehen. Das eher junge Publikum diskutiert eher rege, laut und fröhlich. Frauen mit und ohne Kopftuch unterhalten sich mit Kolleginnen oder mit gleichaltrigen Männern.

Die "Etoile du Nord" ist ohne Zweifel ein willkommener Freiraum inmitten einer immer noch sehr traditionellen Gesellschaft. Diese jungen Menschen, so der Eindruck, verfügen selbstverständlich über die Kommunikationsmittel der heutigen Zeit und leben bewusst im 21. Jahrhundert, verstehen sich aber dennoch als Menschen aus dem Maghreb: stolz, selbstbewusst und ohne Komplexe dem Westen gegenüber.

Zwei Beispiele, die etwas Hoffnung, ja eine Spur Optimismus verbreiten in einer Region, die dies bitter nötig hat. Denn allzu häufig liegt ein Hauch von Resignation und Perspektivlosigkeit über diesem Landstrich, dessen sengende Sonne eigentlich eher zu anderen Stimmungslagen passen würde.

Die Gründe dafür liegen in erster Linie in den verhärteten Strukturen, in den gesellschaftlichen Blockaden und den autoritären Regimes – Faktoren, die kaum Anlass zur Aufbruchstimmung geben.

Bürokratie und Mittelmäßigkeit

Auch in Libyen und Mauretanien finden sich an einigen Orten innovative Projekte. Doch es sind einsame Leitsterne in einem riesigen Gebiet, das sich durch geistige Enge, starken Traditionalismus, durch die Allgegenwart des Religiösen und zunehmend auch durch kulturelle Entwurzelung auszeichnet und dessen Kulturszene von Mittelmäßigkeit, von bürokratischem Geist sowie von einem eklatanten Mangel an Mitteln geprägt ist.

Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im gesamten Maghreb ist dies weiter kaum erstaunlich. Die fünf Maghrebstaaten haben seit ihrer Unabhängigkeit Kultur und Bildung nur einen geringen Stellenwert zuerkannt.

Kinder in Sidi Moumen, einem Slum von Casablanca; Foto: AP
Kultur als Luxusgut: Viele Maghrebiner sind im Zeitalter der Globalisierung vom täglichen Überlebenskampf derart in Anspruch genommen, sodass ihnen kaum Zeit für kulturelle Aktivitäten bleibt.

​​ Vor allem aber können sie der Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger bis heute keine Verhältnisse anbieten, welche diesen ein Leben in Sicherheit und Würde ermöglichen würden. Millionen von Menschen im Maghreb sind vom täglichen Überlebenskampf derart in Anspruch genommen, dass kulturelle Aktivitäten in ihrem Alltag kaum Platz haben und als Luxus erscheinen.

Klar ist, dass sowohl für die meisten Menschen im Maghreb wie auch für die Behörden der fünf Maghrebländer der Schutz von Kulturgütern im weitesten Sinn sowie die Förderung einer lebendigen Gegenwartskultur keine Priorität darstellen.

Zwar hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass gewisse Kulturgüter einen unschätzbaren Wert aufweisen und unbedingt geschützt werden müssen. So werden nun nach Jahrzehnten des Laissez-faire in der von der Unesco als Weltkulturerbe deklarierten Medina von Fes zahlreiche Schritte unternommen, um zumindest die wertvollsten Baudenkmäler zu retten. Dies gilt auch für die wichtigsten vorislamischen Ausgrabungsstätten – von Leptis Magna in Libyen bis Volubilis in Marokko.

Dennoch verliert der gesamte Maghreb Jahr für Jahr in erschreckendem Ausmaß Kulturgüter und einmalige Kulturlandschaften – und damit einen beträchtlichen Teil von dem, was früher seine Einzigartigkeit ausmachte.

Am gravierendsten ist die Zerstörung der einst so harmonischen Dörfer und Weiler auf dem Land mit ihren Gärten und Grünflächen. Überall dringt die moderne, städtische Bauweise in den ländlichen Raum vor und verdrängt gnadenlos die meist sehr angepasste, teils archaische, teils von ihrer Formensprache her sehr ästhetische traditionelle Bauweise.

Missachtung der ländlichen Kultur

Diese großflächige Zerstörung ist nur vor dem Hintergrund einer tief sitzenden Verachtung für die ländliche Kultur und eines extrem starken Wunsches nach Teilhabe an den "Segnungen" der Moderne zu erklären.

Dazu kommt, dass der ländliche Raum noch bis vor kurzer Zeit in seinem eigenen, uralten Rhythmus gelebt hat und nun mit einem Mal mit großer Macht in die Moderne "hineinkatapultiert" worden ist.

Dass in diesem Prozess viele Menschen überfordert sind, erstaunt nicht. Dass damit aber ein wichtiger Teil der maghrebinischen Identität unwiederbringlich zerstört wird, scheint erst einer kleinen Minderheit bewusst zu sein.

Schüler in einer libyschen Grundschule in Tripolis; Foto: AP
Dramatischer Niveauverlust an öffentlichen Schulen: Im internationalen Vergleich hat das Bildungssystem in allen fünf Maghrebstaaten stark nachgelassen.

​​ Dies ist in mehrfacher Hinsicht tragisch. Die Gegenwartskultur fristet im Maghreb ein Mauerblümchendasein. Von den Machthabern als unwesentlich oder aber als Störfaktoren betrachtet, müssen die meisten Kulturschaffenden unter äußerst prekären Verhältnissen leben und dürfen kaum mit Fördergeldern rechnen.

Nicht besser sieht es im Bildungsbereich aus: In allen fünf Maghrebländern beklagen Kenner der Verhältnisse einen dramatischen Niveauverlust an öffentlichen Schulen. Dies gilt sogar für Tunesien, das einst sehr stolz war auf sein gutes Bildungssystem.

Daran ist nicht nur die fehlende Einsicht der Machthaber in die Wichtigkeit von Bildung und Kultur schuld. Sicherheitspolitische Obsessionen sowie innen- und außenpolitische Konflikte haben während langer Jahre derart viele Mittel gebunden, sodass für Kultur und Bildung nur äußerst bescheidene Budgets zur Verfügung standen.

Mangelnde Meinungsäußerungsfreiheit, politische Repression und eine weit verbreitete Korruption haben schließlich dazu geführt, dass ein beachtlicher Teil der intellektuellen Elite des Maghreb heute im Ausland lebt – für die betreffenden Länder ein gravierender Aderlass.

Mit allen Mitteln den Rückstand aufholen

Neben den Folgen einer seit Jahrzehnten schlechten Regierungsführung ist der gesamte nordafrikanische Raum aber auch Einflüssen ausgesetzt, die sich seiner Kontrolle entziehen.

Zerfallende Kasbah in Südmarokko; Foto: Beat Stauffer
Überall dringt die moderne, städtische Bauweise in den ländlichen Raum vor und verdrängt gnadenlos die meist sehr angepasste, ästhetische und traditionelle Bauweise: zerfallende Kasbah in Südmarokko

​​ Zum einen versuchen alle Maghrebländer, ihren technischen und industriellen Rückstand, koste es, was es wolle, in möglichst kurzer Zeit aufzuholen. Dies lässt sich nicht ohne massive Eingriffe in bestehende Strukturen und Mentalitäten bewerkstelligen.

Stark zu spüren sind diese Änderungen aber vor allem in der Arbeitswelt. So haben sich Formen von Stress, die bisher unbekannt waren, zu der vorindustriell anmutenden Ausbeutung gesellt, an welche die Menschen seit eh und je gewöhnt sind. Von orientalischer Gelassenheit, für die der Maghreb einst bekannt war, ist unter solchen Umständen nicht mehr viel zu spüren.

Angst vor Verlust der Identität

Viele Menschen im Maghreb sind von all diesen Veränderungen überfordert und befürchten den Verlust ihrer Identität. Sie spüren instinktiv, dass sich ihr Alltagsleben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten massiv verändert hat, ja dass Nordafrika daran ist, seine "Seele" zu verlieren.

Immer wieder werden Stimmen laut, die – etwa im Fall von Marrakesch oder Djerba – vor einer maßlosen Tourismusentwicklung warnen, welche die Identität der betreffenden Orte unwiederbringlich zu zerstören droht. Doch dies sind nur Einzelstimmen, die bis heute nicht viel Gehör finden; zu groß sind die wirtschaftlichen Interessen.

​​ Doch eine diffuse Malaise ist im gesamten Maghreb weit verbreitet. Viele Menschen flüchten sich in die Wagenburg der Islamisten, die versprechen, die vom "Westen" gefährdete "Identität" mit allen Mitteln zu verteidigen. Tragisch daran ist, dass die Islamisten eine äußerst verengte, eindimensionale und zudem auf die religiöse Dimension reduzierte Sicht der maghrebinischen Identität haben.

Dabei zeichnete sich Nordafrika gerade durch eine multiple, vielschichtige Identität aus, bei der die Kulturen der verschiedenen Invasoren, die jüdische und die berberische Komponente stets eine wichtige Rolle gespielt haben.

Der im Maghreb praktizierte Islam war zudem stark von den mystischen Traditionen der Bruderschaften geprägt und nicht zuletzt auch von vorislamischen Elementen durchsetzt. Dieses tolerante Erbe ist heute in Gefahr, wenn von der salafistischen Lehre geprägte Eiferer den "reinen", einzig richtigen Islam durchsetzen wollen – zur Not mit Gewalt.

Aus all den beschriebenen Gründen läuft der gesamte nordafrikanische Raum Gefahr, zu einer schlechten Kopie von Europa zu werden, seiner immer noch vorhandenen kulturellen und landschaftlichen Qualitäten, aber auch eines Teils seines menschlichen Potenzials verlustig zu gehen.

Dieses manifestiert sich etwa in immer noch dichten sozialen Netzen in Familie und Nachbarschaft, welche die Individuen tragen und vor Vereinsamung schützen, und in einer Tradition der mündlichen Kommunikation, welche in Europa beinahe verloren gegangen ist.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2009

Beat Stauffer ist Journalist in Basel mit dem Spezialgebiet Maghreb-Staaten.

Qantara.de

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