Zwei Arten von Schleier

In der englischen Öffentlichkeit hält die Kontroverse um das Tragen des Schleiers an. Sind Schleier Instrumente der Unterdrückung oder Symbole der Freiheit? Es hängt davon ab, warum sie getragen werden, argumentiert David Shariatmadari.

Protestaktion gegen das Hijab-Verbot in London, Foto: AP
Während der Schleier in der islamischen Welt ein Symbol für Rückwärtsgewandtheit oder Armut sein mag, geht es hier um das Zeugnis von Non-Konformität und Protest, so Shariatmadari

​​Die von Jack Straw im vergangenen Oktober angestoßene Debatte scheint nicht so schnell enden zu wollen. Der ehemalige britische Außenminister, der einer Zeitung kundtat, dass er die Frauen, die in seine Abgeordnetensprechstunde kämen, bitte, den Gesichtsschleier zu entfernen, hat eine intensive Debatte angestoßen und sich gleichzeitig wieder ins politische Rampenlicht begeben.

Die leidenschaftlichen Reaktionen, die in Nachrichtensendungen und im Radio wiedergegeben wurden, verraten, dass es sich um eine Frage handelt, die die britische Öffentlichkeit schon seit längerer Zeit bewegt.

Symbol der Unterdrückung oder Selbstbestimmung?

Es scheint, dass Straws Äußerungen genau den Vorwand lieferten, auf den lange gewartet wurde, um mal ein wenig Dampf abzulassen. Die Debatte kreist vor allem um die Frage, ob der Gesichtsschleier eher ein Instrument der männlichen Unterdrückung ist oder ein Symbol einer bewussten weiblichen Entscheidung, ein Akt der Aufklärung gewissermaßen.

Einige sagen, dass die Verschleierung von jeher den Zweck erfülle, ausschließlich dem simplen, althergebrachten männlichen Chauvinismus zu dienen. Der Koran enthalte keine explizite Liste von Kleidungsstücken, die eine Frau zu tragen habe, sodass es die Männer übernommen hätten, diese aufzustellen, wobei sie nur allzu oft ihrer eigenen Paranoia nachgegeben hätten.

Wie ließe sich eine Frau auch besser kontrollieren, als indem man sie verhülle und sie mit schweren Umhängen verschleiere, um ihr dadurch auch ein äußeres Zeichen der fehlenden Selbstbestimmung zu verleihen.

Der Schleier sei schließlich vor allem in ländlichen, weniger entwickelten Gesellschaften üblich, die den Emanzipierungsprozess anderer Regionen noch nicht vollzogen hätten, für den die Briten mehrere Jahrhunderte brauchten. Wie andere Überbleibsel aus den Zeiten, in denen Frauen vor allem als "bewegliches Gut" angesehen wurden, ohne Stimme und eigene Meinung, müsse auch der Schleier eines Tages abgeschafft werden.

Zur gleichen Zeit aber sehen andere Menschen im Schleier ein positives Zeichen: ein Symbol der Wahlmöglichkeit, das es den Frauen erlaube, ihre Identität zu leben – inmitten einer Gesellschaft, die sich allzu oft nur über Äußerlichkeiten definiere.

Gewiss, so sagen sie, gäbe es die Wahl, unverschleiert zu bleiben, doch gleichermaßen solle es anderen Frauen freigestellt bleiben, sich von den Zwängen der Modetrends und des Make-ups zu befreien, und auch von den aufdringlichen Blicken einer auf rein äußerliche Schönheit bedachten Öffentlichkeit.

Für eine differenzierte Sicht

Als äußeres Zeichen des Islam drücke der Schleier zudem religiöse Hingabe aus und diene damit letztlich dem gleichen Zweck wie die Kutte eines Mönchs oder das Habit einer Nonne. Niemand käme auf die Idee, von einer Nonne zu verlangen, dass sie ihr Habit abzulegen habe - warum also sollte man es von muslimischen Frauen verlangen. Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen?

Der erste der beiden hier kurz dargestellten Standpunkte ist vor allem in der weißen, liberalen Mittelklasse anzutreffen, während der zweite vor allem von Muslimen der zweiten Generation vertreten wird. Aber wer hat nun Recht? Gewissermaßen beide, könnte man sagen - allerdings reden sie aneinander vorbei und beziehen sich auf unterschiedliche Phänomene.

Im heutigen Großbritannien existieren praktisch zwei verschiedene Arten von Verschleierungen. Zum einen gibt es zweifellos eine Gruppe von Frauen, die nichts lieber täte, als ihren Schleier fortzuwerfen, die es aber nur dann täte, wenn keine Ehemänner, Brüder oder Väter um sie herum wären, die sie davon abhalten könnten.

Dabei kann es sich durchaus um gerade zugewanderte Frauen handeln, die voll und ganz in das Netzwerk ihrer traditionellen Großfamilie eingebunden sind, um Frauen mit geringen Englischkenntnissen und ohne Aussicht darauf, irgendwann einmal ihren eigenen Weg zu gehen.

Es können aber auch Töchter von Einwanderern sein, Kinder aus besonders konservativen Familien. Diese Frauen sollten selbstverständlich die Möglichkeit haben, das zu tun, was sie wirklich selbst wollen. Und tatsächlich können wir nur hoffen, dass sich die Zahl dieser in ihren Familienwerten gefangenen Frauen nach und nach minimiert.

Non-Konformität und Protest

Zum anderen aber gibt es jene, die schon ihr ganzes Leben in Großbritannien verbracht haben, doch sich erst vor kurzem entschlossen haben, ihr Gesicht zu verhüllen. Oft haben sie Schwestern oder sogar Mütter, die keinen Schleier tragen. Es sind redegewandte, junge, alerte Frauen, die sich vehement dagegen verwehren, würde man sie als Opfer von Unterdrückung bezeichnen.

Sie lügen nicht, wenn sie behaupten, dass sie sich aus eigenen Stücken für die Verhüllung entschieden haben. Es handelt sich um eine Entscheidung, die immer stärker zugenommen hat, seitdem viele Muslime sich als Opfer einer Welle von Misstrauen und Hass sehen.

Nennen wir es den "11. September-Effekt", den "Irak-Effekt" oder sonst wie, Fakt bleibt doch, dass es sich um eine Reaktion handelt, der eine ganz andere, neue kulturelle Bedeutung zuteil wird.

Während es in ihren Herkunftsländern durchaus ein Symbol der Rückwärtsgewandtheit oder auch Armut sein mag - in Kairo, Istanbul oder gar Teheran ist die völlige Verschleierung meist ein Zeichen eines geringen sozialen Standards -, geht es hier um das Zeugnis von Non-Konformität und Stolz, oder auch von politischem Widerstand.

Es wäre schlicht ein Irrtum, wollte man auf diese so unterschiedlichen Gruppen von Frauen - verletzbar die einen, politisch wach und interessiert die anderen - den gleichen Maßstab anwenden. Es wäre darüber hinaus ein Irrtum, den wir unter allen Umständen vermeiden müssen, wenn wir wirklich eine offene Debatte führen wollen.

Jack Straw ging es nach seiner eigenen Aussage nicht darum, dass der Schleier ein Zeichen der Unterdrückung sei, sondern schlicht darum, dass er zutage brächte, was die einzelnen Teile der Gesellschaft voneinander trenne.

Doch selbst, wenn etwas Wahres dran sein mag, so ist ebenso festzuhalten, dass es die Politik seiner Regierung im "Krieg gegen den Terror" war, die zur Entfremdung großer Teile der Gesellschaft führte und sie, als weitere Folge, in Bezug auf ihr kulturelles Erbe immer weiter in die Defensive gedrängt hat.

Sicher gibt es einige wenige, die sich, als Reaktion auf diese Verteufelung, klein machten oder gar versuchten, unsichtbar zu werden. Andere hingegen - und dies ist vielleicht der natürliche Impuls - tun das Gegenteil und unternehmen alles, um die Herausforderung anzunehmen und sich an die Seite derer zu stellen, die auf diese Art herabgewürdigt werden.

Männer mögen sich dann lange Bärte wachsen lassen, um so auszusehen, wie es noch ihre Großväter taten. Für Frauen aber mag es eben der Schleier sein. Doch wie dem auch sei: Die politische Klasse, zu der auch Jack Straw gehört, muss die psychologischen Gründe verstehen, die zu dieser Entwicklung geführt haben, was auch bedeutet, dass sie einen Teil der Schuld auf sich nimmt.

David Shariatmadari

© OpenDemocracy 2006

Der Publizist David Shariatmadari studierte Linguistik an der Cambridge University und an der School of Oriental and African Studies in London.

Qantara.de

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