Stimmen für ein kurdisches Kurdistan

Bei der jetzigen Parlamentswahl haben die Kurden nichts unversucht gelassen, um Kirkuk unter ihre Kontrolle zu bringen – sie sind nicht bereit, den Ölreichtum ihrer Region zu teilen. Birgit Svensson hat den Wahlvorgang in der umkämpften Stadt für Qantara.de beobachtet.

Zwei sunnitische Iraker betrachten den Stimmzettel für die anstehenden Wahlen in Kirkuk; Foto: AP
Schicksalsträchtige Wahlen in Kirkuk: Sollten die Kurden hier weiter an Einfluss gewinnen, könnte die Stadt in die kurdische Region der drei Provinzen Erbil, Suleimanija und Dohuk eingegliedert werden.

​​ Das Wahlzentrum 13907 gleicht einem Basar. Geschäftiges Treiben herrscht überall auf dem gesamten Terrain der Mamosta-Raschad-Schule, gleich hinter der Zitadelle im mehrheitlich von Kurden bewohnten Teil Kirkuks.

Die Menschen laufen hin und her, bleiben stehen, diskutieren. Anscheinend hat sich herumgesprochen, dass man hier leichter wählen kann, die Regeln großzügiger gehandhabt werden als anderswo. Die beiden jungen Frauen, die am Eingang sitzen und die Ausweise der Hereinkommenden kontrollieren sollen, winken einfach nur schnell durch. Man scheint sich zu kennen. Mädchen in leuchtend grünen und gelben Festtagskleidern, kaum 16 Jahre alt, tauchen in den Wahllokalen auf und geben ihre Stimmen ab.

Ein nervöser Wahlleiter

Doch auch im Irak darf man eigentlich erst ab 18 wählen. Ein älterer Herr in traditionell kurdischen Pumphosen und breitem Gürtel um das blusenartige Oberteil wischt sich den mit lila Tinte gefärbten linken Zeigefinger ab, geht kurz nach draußen und kommt nach fünf Minuten wieder, um noch einmal zur Wahlurne zu gehen. Sein Bruder sei ebenfalls hier registriert, gibt er als Begründung, aber der habe nicht kommen können. Er sei in Kanada.

Der Leiter des Wahlzentrums ist sichtlich nervös, als die internationalen Beobachter auftauchen. Es sei alles in Ordnung hier, ruft ein junger Mann auf einer Bank gegenüber den Wahlkabinen in einem der fünf Räume den Besuchern aus Deutschland und Italien zu, "keine Probleme!"

Kurdische Wähler mit blauen Flaggen; Foto: AP
Engagierter Wahlkampf: Die Kurden in Kirkuk fühlen sich von der Zentralregierung seit langem vernachlässigt und betreiben zielbewusst eine 'De-Arabisierung' der Stadt.

​​ Zum ersten Mal hat das irakische Netzwerk "Shams", das sich mit der Beobachtung von Wahlen und Volksbefragungen befasst und 3000 Mitarbeiter im ganzen Land verteilt hat, für diese Parlamentswahlen auch 49 sogenannte "Expats" eingesetzt, Nicht-Iraker, die den Wahlvorgang verfolgen.

Drei Straßen weiter zeigt sich ein völlig anderes Bild: Die Ausweise werden gründlich kontrolliert, die Registrierung überprüft, die Wahlzettel gestempelt, bevor sie ausgehändigt werden. Pünktlich um 17 Uhr schließt das Wahlzentrum Bekas für die Öffentlichkeit.

Siegesgewisse Kurden

Die Türen der sechs Wahllokale werden zu gemacht, die Auszählung der Stimmen beginnt. Gut zwei Stunden später steht das Ergebnis fest und wird an der Tür angeschlagen. Die kurdischen Parteien KDP von Mazoud Barzani und PUK von Jalal Talabani liegen mit Abstand vorne.

Schon am Wahlabend steht für die Kurden in Kirkuk fest, dass sie sieben der dreizehn Sitze Kirkuks in der Volksvertretung gewonnen haben, obwohl die Unabhängige Wahlkommission in Bagdad die Stimmen nochmals zählen und das amtliche Ergebnis erst in etwa einer Woche erwartet wird. Erste vorläufige Resultate kommen in den nächsten Stunden.

Doch die Kurden sind schon jetzt siegessicher und fahren seit dem Wahltag am Sonntag mit wehenden Fahnen in offenen Autos durch die Stadt. Sie setzen alles daran, die Mehrheiten in Kirkuk zu verändern und die Stadt unter ihre Kontrolle zu bekommen.

De-Arabisierung Kirkus

Mit diesen Wahlen meinen sie, dem Ziel einen Schritt näher gekommen zu sein. Die Arabisierung, wie sie Saddam Hussein in den 1970er Jahren betrieb und Tausende Kurden zwangsumsiedeln ließ, soll rückgängig gemacht werden.

Kritiker bezeichnen den De-Arabisierungsprozess, der seit dem Sturz des Diktators läuft, als durchaus problematisch. So werden Kurden mit Wurzeln in Kirkuk aufgefordert, sich in der Stadt wieder anzusiedeln. Zwei neue Viertel sind bereits entstanden. Es gibt einen kurdischen Beauftragten für die Wiedereingliederung, der Landparzellen und Startkapital zuteilt.

Öl-Raffinerien im Irak; Foto: AP
Kirkuk ist das Zentrum der irakischen Ölindustrie: Der Großteil des Gewinns der geförderten Menge wird allerdings von der Zentralregierung in Bagdad verwaltet.

​​ Im Gegenzug werden arabische Familien aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Ziel dieser demographischen Veränderung ist die Eingliederung der ölreichen Provinz Kirkuk in die kurdische Region der drei Provinzen Erbil, Suleimanija und Dohuk, die Ausweitung der bestehenden Autonomiegebiete. Ein bedingungsloser Anschluss Kirkuks verspricht enorme Gewinne: Kurdistan würde dann über 40 Prozent des gesamten im Irak geförderten Erdöls verfügen - und nicht mehr nur, wie bisher, über vergleichsweise lächerliche drei Prozent.

Ein alles entscheidendes Referendum

Anfangs standen die Chancen für die Kurden auch ziemlich gut, tatsächlich in den Besitz von Kirkuk zu kommen. Laut der neuen irakischen Verfassung sollte bereits 2007 das Problem gelöst werden, ein Referendum darüber entscheiden, ob die Ölstadt an Kurdistan angeschlossen wird oder nicht.

Die Volksbefragung ist aber bis heute nicht durchgeführt worden. Die Uno gibt technische Probleme als Begründung an. Tatsächlich ist die Ursache aber politischer Natur. Die separatistischen Töne der kurdischen Regionalregierung in Erbil lassen eine Abspaltung der Region vom Rest des Landes befürchten, wenn Kirkuk unter kurdische Verwaltung gerät.

Als es im Vorfeld der jetzigen Parlamentswahlen um die Neuverteilung der Sitze in Bagdad ging, entbrannte denn auch ein heftiger Streit unter den drei größten Volksgruppen. Der für Ende Januar angesetzte Wahltermin platzte und musste auf März verschoben werden. Ein Kompromiss wurde gefunden: die seit 2004 zugezogenen Kurden bekamen Stimmrecht, Araber und Turkmenen eine Aufstockung der Sitze von zwölf auf 13 genehmigt.

Wahltourismus

Die Wahlkommission verzeichnet 52.000 neue Namen auf den Wählerlisten, 2000 mehr als für einen Sitz im Parlament nötig sind. Ein Sitz, der über das Kräfteverhältnis in Kirkuk entscheidend sein kann. Am Abend vor der Wahl konnte man lange Schlangen an den Eingangskontrollpunkten der Stadt beobachten – Autos mit Kennzeichen aus Erbil, Dohuk und Suleimanija. Sie alle kamen nach Kirkuk um zu wählen.

Foto: AP
Premierminister Nouri al-Maliki bei der Stimmabgabe: Die Stimmenauszählungen in Kirkuk könnten das Machtgefüge des Landes grundlegend verändern.

​​ Arafa liegt gegenüber der Zitadelle. Der Bezirk ist ebenfalls vornehmlich kurdisch, schwer bewacht und mit Kontrollpunkten versehen. Die untere Straße führt zu einer Residenz, die vollständig mit Betonstehlen und Stacheldraht umgeben ist. Früher wohnte hier der gefürchtete Cousin Saddam Husseins, den die Iraker schlicht Chemie Ali nannten wegen der Giftgasangriffe auf Kurden, die er befehligte und durchführte.

Nach dem Ende seiner Ära wurde das Haus von der US-Administration bewohnt und dient nun der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Manchmal residiert Iraks Präsident Jalal Talabani hier, jetzt empfängt Najmadin Karim Gäste.

"Kirkuk muss kurdisch werden"

Der aus den USA zurückgekehrte Chirurg steht ganz oben auf der Liste der Kurdischen Allianz und zieht mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Parlament nach Bagdad ein. Kirkuk werde sich nur unter kurdischer Verwaltung weiterentwickeln können, behauptet er selbstbewusst: "Sehen Sie doch, was Bagdad für die Stadt tut – nichts!" Die Infrastruktur sei völlig heruntergekommen, Investitionen gäbe es kaum. In den letzten sieben Jahren sei nichts passiert. "Dabei ist Kirkuk eine reiche Stadt."

Dass mit dem neuen Haushalt auch mehr Geld in die Stadt fließen werde, will er nicht gelten lassen. Von dem einen Dollar pro gepumptem Fass Öl, das Kirkuk künftig zukommen soll, sei noch nichts angekommen. Karim bleibt dabei: "Kirkuk muss kurdisch werden." Als Abgeordneter werde er dafür sorgen, dass endlich Artikel 140 der Verfassung umgesetzt werde, der eine Neuregelung der regionalen Grenzen und die Durchführung eines entsprechenden Referendums vorsieht.

Der Vorschlag von Arabern, Turkmenen und der Uno, aus Kirkuk eine autonome Stadt mit Selbstverwaltung zu machen, erteilt Karim eine klare Absage. Karim heißt übersetzt der Großzügige. Doch davon ist an diesem Tag in der ehemaligen Residenz von Chemie Ali nichts zu spüren.

Birgit Svensson

© Qantara.de 2010

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