"Die Türkei ist ein kulturell schöpferisches Land"

Das jüngst an der Universität Hamburg gegründete "TürkeiEuropaZentrum" erforscht die gesellschaftliche sowie politische Entwicklung der Türkei und will gleichzeitig gängigen Klischees über das Land am Bosporus ausräumen, erklärt Raoul Motika, Leiter des Zentrums im Gespräch mit Thilo Guschas.

Das jüngst an der Universität Hamburg gegründete "TürkeiEuropaZentrum" erforscht die gesellschaftliche sowie politische Entwicklung der Türkei und will gleichzeitig gängigen Klischees über das Land am Bosporus ausräumen, erklärt Raoul Motika, Leiter des Zentrums im Gespräch mit Thilo Guschas.

Raoul Motika; Foto: Universität Heidelberg
Als Leiter des TürkeiEuropaZentrums</wbr> der Universtität Hamburg beschäftigt sich der Turkologe Raoul Motika interdisziplinär mit dem Transformationsprozess der Türkei und ihrem Verhältnis zur EU.

​​Herr Motika, Sie sind Leiter des kürzlich an der Universität Hamburg gegründeten "TürkeiEuropaZentrums". Welche Aufgaben übernimmt diese Institution?

Raoul Motika:Die Türkei ist ein bedeutendes, aufstrebendes Land. Unter den wichtigsten Wirtschaftsnationen belegt die Türkei Platz 17, mit ihrer Wirtschaftskraft per Capita übersteigt sie die beiden EU-Staaten Bulgarien und Rumänien. Gleichzeitig gibt es in Deutschland kaum jemanden, der sich mit Makroökonomie in der Türkei wirklich auskennt. Das gleiche gilt für die türkische Innenpolitik! Diese Lücke soll nun das TürkeiEuropazentrum schließen.

Das Haupthemmnis war für viele Forscher bislang die türkische Sprache, sie ist natürlich Grundlage jeder sinnvollen Forschung über die innertürkischen Entwicklungen. In unserem Zentrum gibt es diese Sprachkompetenz – dazu kommt noch die Kooperation mit türkischen Universitäten.

Welche Themen stehen im Vordergrund?

Motika: Die Türkei wandelt sich in eine moderne Industrienation. Die hieraus resultierenden Veränderungen wollen wir erforschen. Aber uns interessieren auch die Wechselwirkungen, die dabei zwischen der Türkei und Westeuropa entstehen. Zum Beispiel werden wir das Wirtschaftsdenken in der Türkei näher untersuchen. Wenn man nach Russland schaut, und die Wirtschaftspolitik unter Putin ansieht, erkennt man, dass die soziale Marktwirtschaft ein europäisches Modell ist.

Uns beschäftigt daher: In welche Richtung entwickelt sich die Türkei? Wie wird dieser Prozess durch Europa und die EU beeinflusst? Solche Fragen bearbeiten türkische und deutsche Wissenschaftler dann gemeinsam. Dies wird sicher auch dazu beitragen, auf beiden Seiten Vorurteile abzubauen. Etwa das Klischee, dass in Deutschland alle Muslime unterdrückt würden, was in der Türkei z.B eine weit verbreitete Angst ist. Dass es hier über 2.000 Moscheen gibt, weiß man in der Türkei kaum.

Es geht also nicht allein um wissenschaftliche Arbeit, sondern auch um gesellschaftliche Aufklärung?

Motika: Wenn dies sozusagen nebenher geschieht, wäre es natürlich schön. Neulich hat wieder ein deutscher Politiker verlangt, man solle in der Türkei endlich die Zwangsheirat verbieten. Eine absurde Forderung – sie ist dort genauso verboten wie in Deutschland! Es ist ein gesellschaftliches Problem und die Frage, inwieweit bestehende Rechtsnormen durchgesetzt werden können.

Wenn Sie das Bild der Türkei "auffrischen" – arbeiten Sie dann auch daran, einen EU-Beitritt der Türkei zu forcieren?

Foto: privat
Politische Reformprozesse, eine rasch wachsende Wirtschaft und eine facettenreiche, innovative Kulturszene: die Türkei ist ein Land im Umbruch, was in Deutschland noch wenig bekannt ist.

​​Motika: Nein, wir sind eine wissenschaftliche Einrichtung, keine Lobby-Vertretung für einen EU-Beitritt! Uns geht es ganz einfach darum, auf wissenschaftlichem Niveau zu dokumentieren, dass die Türkei ein Land im Umbruch ist. Das Land zeigt sich kulturell vielseitig, hat renommierte Film- und Jazzfestivals hervorgebracht, Museen für moderne Kunst und rund zehn international anerkannte Universitäten - abgesehen von dem beachtlichen osmanisch-islamischen Erbe. Das Land wandelt sich rasant. Es ist kein zurück gebliebenes Land, wie viele immer noch glauben!

Wird das Zentrum auch die Lage der Minderheiten thematisieren?

Motika: Unbedingt! Die heutige Türkei ist ein Einwandererland, in dem sich viele Ethnien mischen. Ein Großteil der Migranten stammt aus dem Balkan und der ehemaligen Sowjetunion. Nach wie vor gibt es Spannungen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen. Da ist zum Beispiel die Benachteiligung der Aleviten, deren Gebetshäuser nicht anerkannt sind. Auch für die Kurden ist die Lage noch immer angespannt. Im Hintergrund steht dabei eine Kernfrage für die heutige Türkei: Wie definiert sich das Land – als ein unitärer Staat – eine Nation, eine Sprache, ein Volk?

Da die Türkei wirtschaftlich wächst, steigt auch ihre internationale Bedeutung. Es interessiert andere Staaten zunehmend, wie die Türkei mit ihren Minderheiten umgeht. Dabei ist allerdings noch offen, ob das Land tatsächlich mehr Pluralität zulassen wird. Doch ganz gleich, welchen Weg die Türkei am Ende geht – wir werden es mit unserem Zentrum dokumentieren.

Interview: Thilo Guschas

© Qantara.de 2009

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