Nicht nötig

Braucht Deutschland eine gesellschaftliche Diskussion über die so genannte "Leitkultur"? Nein, für die Lösung der Integrationsprobleme vieler Zuwanderer in Deutschland ist eine solche Debatte nach wie vor nicht nötig, meint Peter Philipp.

Braucht Deutschland eine gesellschaftliche Diskussion über den allgemeinen Wertekonsens, die so genannte "Leitkultur"? Nein, für die Lösung der Integrationsprobleme vieler Zuwanderer in Deutschland ist eine solche Debatte nach wie vor nicht nötig, meint Peter Philipp.

Trachtenumzug auf dem Oktoberfest in München; Foto: dpa
Auch die perfektesten Deutschkenntnisse machen allein noch keinen Deutschen, Lederhose und Gamsbart erst recht nicht, schreibt Peter Philipp

​​Der neue Bundestagspräsident, Norbert Lammert, bedauert in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit", dass man vor einigen Jahren die Diskussion über eine deutsche "Leitkultur" vorschnell abgebrochen habe:

Jede Gesellschaft brauche möglichst breit verankerte Überzeugungen, und kein politisches System könne ohne solche gemeinsamen Überzeugungen "seine innere Legitimation aufrechterhalten".

Es sei deswegen notwendig, die Debatte wieder aufzunehmen, denn ohne Besinnung auf eine Leitkultur seien die gegenwärtigen Probleme in Deutschland kaum zu lösen.

An Aufrichtigkeit und gutem Willen des Interviewten soll hier kein Zweifel aufkommen. Aber doch daran, ob eine Neuauflage der "Leitkultur"-Diskussion sinnvoll oder nicht eher schädlich ist.

Der Begriff, der zunächst nur dazu diente, einen allgemeinen Wertekonsens zu bezeichnen, geriet nämlich vor fünf Jahren zum Kampfausdruck in der hitzigen Debatte über Einwanderung und Integration von Ausländern. CDU-Politiker Friedrich Merz forderte damals, Ausländer, die nach Deutschland einwandern wollten, müssten die deutsche "Leitkultur" akzeptieren und sich dieser anpassen. Wer dazu nicht bereit sei, der könne nicht erwarten, dass die Gesellschaft ihn hier aufnehme.

Solche Worte lösten heftige Reaktion aus. Besonders von jenen, die die Einwanderungsbestimmungen liberalisieren wollten und dann auch wirklich liberalisierten: Zuwanderer sollten "integriert", aber nicht "assimiliert" werden. Der Begriff einer Leitkultur sei wie ein Zwang, die deutsche Kultur anzunehmen und dafür die eigene zu vergessen. Das aber könne und dürfe in einer multikulturellen Gesellschaft nicht geschehen.

Über die "multikulturelle Gesellschaft" hatte man ebenso erbittert gestritten: Die einen leugneten sie rundheraus, während andere sie idealisierten und verklärten. Wobei die Wirklichkeit - wie so oft - in der Mitte lag: Deutschland war längst Einwanderungsland, und das hat auch dazu geführt, dass die Gesellschaft in Deutschland sich in vielfältigeren Facetten zeigt als das früher noch der Fall gewesen war.

Wahrscheinlich ist es falsch, wenn man mit deutscher Gründlichkeit daran geht, die eigene Befindlichkeit genau definieren zu wollen. Das muss scheitern - einmal am unterschiedlichen Blickwinkel, aus dem die Lage betrachtet wird, zum anderen auch, weil die Lage sich tagtäglich ändert. Eine statische Beschreibung und Definition unserer Gesellschaft dürfte deswegen immer ungenügend und überholt sein.

Wir haben keine wahre Leitkultur in Deutschland. Es sei denn, man zählt dazu wirklich nur, was man allgemein unter "Kultur" versteht. Aber auch da ist es längst kein Geheimnis, dass das "Volk der Dichter und Denker" dieser Kultur längst nicht mehr so verbunden ist.

Und: Brauchen wir denn überhaupt so etwas wie eine "Leitkultur"? Dient solch ein Begriff am Ende nicht in erster Linie dazu, sich abzugrenzen von anderen, von Zuwanderern? Und es ihnen schwerer zu machen, hierher zu kommen?

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kontakt@qantara.de Dabei ist es doch aber auch selbstverständlich, dass jemand, der nach Deutschland einwandert, um hier zu bleiben, sich darum bemüht, Sprache und Umgangsformen zu lernen. So, wie ein Deutscher im Ausland das ebenso tun sollte. In beiden Fällen ist es inakzeptabel, dass man auf Dauer in einem fremden Land lebt, ohne sich wenigstens ein bisschen in dieses Land zu integrieren.

Das wäre auch von Zuwanderern zu erwarten. Was aber können, ja dürfen wir von ihnen fordern? Auch die perfektesten Deutschkenntnisse machen allein noch keinen Deutschen, Lederhose und Gamsbart erst recht nicht.

Nicht solche Äußerlichkeiten integrieren, sondern Wille und Bereitschaft des Gastvolkes und der Zugewanderten, zusammen zu leben. Gegenseitige Offenheit, gegenseitiges Interesse sind wichtiger als Kopftuch-Debatten oder die Furcht vor "Parallelgesellschaften".

Nicht eine Leitkultur wird das Problem lösen - weil der Begriff allein schon für die Forderung nach Angleichung und Assimilation steht. Nicht der Neue, der Zugewanderte allein ist gefragt, die Gastgesellschaft ebenso. Für sie wäre es fatal, wenn sie nun dem Rat des Bundestagspräsidenten folgte und sich erneut versuchen sollte in Selbstdefinition und in der Suche nach einer "Leitkultur."

Peter Philipp

DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

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