Christoph Carmesin, 03. Juli 2010

zu Das Orientalische Geschwür von Christian Horbach

Ein Vergleich der gegenwärtigen deutschen Nahost-Politik mit der zu Zeiten Bismarcks sollte neben den andersartigen politischen Zielen auch auf die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen in der jeweiligen Zeit eingehen, was der Autor leider eher unterläßt. Der heutige Nahe Osten besteht aus souveränen Staaten, der damalige bestand aus teilweise autarken Provinzen des Osmanischen Reichs, welches den einzigen wirklich souveränen Staat in jener Gegend darstellte, wenn man vielleicht von Ägypten absieht. Das Zeitalter des klassischen Imperialismus mit politisch abhängigen Kolonien ist seit vielen Jahrzehnten Geschichte. Nach den Worten des Autors gab es damals eben keine Diplomatie MIT Ländern des Nahen Ostens als vielmehr eine solche unter europäischen Kolonialmächten, die den Nahen Osten zum Gegenstand hatte. Nahost Politik wird heute auch MIT den Ländern des Nahen Ostens gemacht, nicht nur am Tisch mit rivalisierenden europäischen Mächten. Es geht heute auch nicht um eine Schwächung potentieller europäischer Kriegsgegner oder um Kolonienerwerb sondern eher um wirtschaftliche Interessen, Menschenrechte und Friedensvermittlung.
Vermittlung war auch Bismarcks Ziel, als er 1884/1885 die Kolonialmächte zur Berliner Konferenz einlud, in der sich die europöischen Mächte über die koloniale Aufteilung der Welt einigen sollten. Insofern muss Bismarcks Kolonialpolitik durchaus nicht als Abweichen von seiner Politik des Ausgleichs zwischen europäischen Staaten gesehen werden.

Es stellt sich also letztlich die Frage, warum der Autor ausgerechnet in der Bismarckschen Politik aus einer Zeit des Imperialismus und Kolonialismus nach Anregungen für moderne deutsche Außenpolitik suchen musste, um dann lediglich zu dem Ergebnis zu kommen, dass unsere Zeit eine aktivere Rolle Deutschlands im Nahen Osten brauche. Hilfreicher wäre ein Vergleich von jüngerer und jüngster deutscher Außenpolitik gewesen und interessant wäre ein Artikel über Bismarcks Orientpolitik auch ohne den hinkenden Vergleich gewesen.