Ein Leben ohne Mauern

Die Filmemacherin Simone Bitton drehte mit "Mauer" eine Dokumentation über die israelisch-palästinensischen Grenzanlagen. Amin Farzanefar mit einem Portrait der international ausgezeichneten Regisseurin.

Simone Bitton;  Foto: www.reflections.it
Im Mittelpunkt von Simone Bittons Kinofilmdebüt steht die fast 700 Kilometer lang und bis zu acht Meter hohe Mauer

​​In ihren zahlreichen, häufig ausgezeichneten Fernsehdokumentationen umkreist Simone Bitton bislang Befindlichkeiten im Maghreb, im Nahen und Mittleren Osten.

Häufig nähert sie sich der Region über einzelne Personen: so porträtierte sie in der dreiteiligen Sendereihe "Große Stimmen des arabischen Liedes" (1990) drei übermächtige Kultfiguren: die Gesang- und Filmstars Umm Kulthoum, Mohammed Abd el-Wahhab, Farid al-Attrache.

Den Film "Ben Barka" (2001) widmete sie dem marokkanischen Politaktivisten, Freiheitskämpfer und späteren Dissidenten Mehdi Ben Barka, der 1965 unter ungeklärten Umständen verschwand.

Grenzgängerin zwischen den Kulturen

Kontroverse Figuren und ambivalente Lebenswelten erscheinen angesichts der bewegten Biografie der Filmemacherin Simone Bitton als nahe liegende Sujets:

1955 als Tochter eines marokkanisch-jüdischen Juweliers in Marokko geboren, emigrierte sie 1966 mit den Eltern nach Israel. Durch die aktive Teilnahme am Oktoberkrieg 1973 zur Pazifistin gewandelt, verließ Bitton das Land zum Filmstudium an der berühmten Pariser IDHEC und ist seither in mindestens drei Gesellschaften zuhause.

Filme über den Nahostkonflikt

Der Nahost-Konflikt ist ein wiederkehrendes Thema in ihrer Arbeit. Einem Film über Palästina ("Story of a Land", 1992) folgen Porträts über die palästinensische Dichterlegende Mahmoud Darwish, ("Wie das Land so die Sprache ", 1997) und über Azmi Bishara, den arabischen Knesset-Abgeordneten:

"Citizen Bishara", von 2001, zeigt den Alltag, die Ziele und Gedanken eines Mannes, der einen schwierigen Spagat absolviert und 1999 als erster Palästinenser für den Posten des israelischen Premierministers kandidierte.

Bereits 1999 gedreht, aber - leider - immer noch hochaktuell ist "The bombing/ L'Attentat", eine Dokumentation über den verheerenden Selbstmordanschlag in der Ben-Yehuda-Fußgängerzone vom September 1997. Angesichts des spektakulären Themas gibt sich Bitton im Ton bewusst zurückhaltend, unternimmt auch keine politischen oder psychologischen Erklärungsversuche.

Bislang selten gezeigten, erschütternden Bildern vom Tatort und bewegenden Berichten von Augenzeugen folgen lange Gespräche mit den Familienangehörigen – denen der israelischen Opfer aber auch der jugendlichen Selbstmordattentäter.

Was man vielleicht befürchtet – Rechtfertigungen, Anklagen, Hasstiraden - bleibt aus; vor allem ist "Das Attentat" ein tieftrauriger Film über einen sinnlosen Verlust, der auch die Hilflosigkeit der Filmemacherin zum Ausdruck bringt – und ihre bedingungslose Bereitschaft, mit Palästinensern und Israelis gleichermaßen zu leiden.

Diese persönliche Identitätsproblematik thematisiert Bitton am Ende ihres neuesten Filmes, "Mauer" etwas überdeutlich, im Gespräch mit einem befreundeten Psychologen, der der Regisseurin seelische Gesundheit attestieren muss, weil – oder obwohl? - sie sich trotz der verfahrenen Situation für Frieden und Ausgleich engagiert.

Bilder von "Absurdistan"

Dennoch: Bittons erster Kinofilm ist ein beeindruckend komponiertes, Leinwand füllendes Porträt. Keine Person steht diesmal im Zentrum, sondern jene binnenländische Grenzanlage, die das ganze Dilemma des Nahostkonflikts symbolisiert.

Dabei wird "Mauer" in seinen besten Momenten zu einer allgemeinen existenziellen Studie über Aus- und Eingesperrtsein: Die langen Einstellungen von Maschinen, LKW und Kränen, die Millionen Tonnen von Erde und Beton in Bewegung halten, erzeugen dann - zusammen mit einer Tonspur -, auf der sich Baulärm und idyllische Naturgeräusche überlagern, Momente unendlicher Melancholie und Tristesse.

Stück für Stück senken sich die Bauelemente der Mauer vor jene blühende Landschaft, die dann von israelischer Seite aus wieder auf Beton gemalt wird.

Häufig verfeinert Bitton dabei das Stilmittel der Verknappung, der Irritation, liefert kaum Informationen oder Fakten, und lässt sogar offen, auf welcher Seite der Barriere wir uns gerade befinden: Dass wir uns vor allem in "Absurdistan" bewegen, vermitteln Bilder einer hochmodernen, fast vollständig eingemauerten Bungalowsiedlung, deren Bewohner über die palästinensischen Dorfbewohner wie über blutrünstige Aliens sprechen, die jeden Moment eine Invasion starten könnten.

Ähnlich phantastisch nimmt es sich aus, wenn übellaunige israelische Soldaten den Eintritt einer Busladung von Pilgern in das heilige Grab Rahels nach allen Seiten mit MGs sichern - ein Vietnamfilm?, ein martialischer Science Fiction?

Mit solchen kommentarlosen, minutenlangen Stimmungsbildern, die Bitton bewusst der geschwätzig-schnellen Ästhetik des Fernsehens entgegenstellt, wirkt "Mauer" gewissermaßen als Gegenstück zu einem anderen Film über die Grenzanlagen.

Friedliebende Gutmenschen

In dem nervösen "Route 181" begegneten Michel Khleifi und Eyal Sivan entlang des Grenzverlaufs vor allem neurotisierten und traumatisierten Psychowracks. Bittons Interviewpartner hingegen – es gibt sie auch - sind überwiegend friedliebende Gutmenschen:

Da ist Schuli Dichter, der kritische linksintellektuelle Kibbuznik, der über seine Landsleute sagt: "Wir lieben Israel so sehr, dass wir es in unserer Umarmung am liebsten erwürgen wollen". Da sind die palästinensischen Arbeiter, die für israelische Firmen mit an der Sperranlage bauen (einer will aus Angst vor Vergeltungsakten nicht gefilmt werden) und ihr irakisch-stämmiger Chef. Und alle meinen, die Mauer sei "hinausgeworfenes Geld".

Nur einer erweist sich ganz als Betonkopf: Der israelische Mauerexperte, Ex-General und Sharon-Intimus Amos Yaron, der, neben der Landesflagge an seinem Schreibtisch sitzend, nicht über den eigenen Teller- und Mauerrand blicken will "Die Palästinenser sind an allem schuld."

Um gegen solche Einseitigkeiten anzugehen, hat sich Simone Bitton für ihren nächsten Film wieder einen Grenzgänger ausgesucht, der ein Leben lang innere und äußere Mauern bekämpfte und ethnische oder kulturelle Trennungen nicht akzeptieren wollte: Frantz Fanon. Der berühmte Psychiater und Freiheitskämpfer, stammte aus Martinique, studierte in Frankreich, und engagierte sich im algerischen Befreiungskrieg.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2005

Qantara.de
Buchtipp Nahostkonflikt
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Mahmoud Darwisch
Die poetische Stimme Palästinas
Die Werke des palästinensischen Lyrikers Mahmoud Darwisch sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zwei Veröffentlichungen in deutscher Sprache bieten aufschlussreiche Einblicke in Leben und Werk des vielfach ausgezeichneten Dichters. Von Martina Sabra

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Website Ventura-Film