Entfremdung von den eigenen Traditionen

Literatur aus den Vereinigten Arabischen Emiraten fristete lange Zeit ein Schattendasein. Doch mit der Modernisierung des Landes hat sich das inzwischen gründlich geändert. Das Internationale Buch- und Literaturfestival Basel bot jüngst Gelegenheit zur Begegnung mit einer jungen Autorin aus den Emiraten. Von Susanne Schanda

Literatur aus den Vereinigten Arabischen Emiraten fristete lange Zeit ein Schattendasein. Doch mit der Modernisierung des Landes hat sich das inzwischen gründlich geändert. Das Internationale Buch- und Literaturfestival Basel bot jüngst Gelegenheit zur Begegnung mit einer jungen Autorin aus den Emiraten. Susanne Schanda berichtet.

Frau liest arabische Literatur; Foto: dpa
Auch in den Emiraten gibt es für Schriftsteller äußerst sensible Themenfelder, die leicht der Zensur zum Opfer fallen können, wie zum Beispiel Religion, Sexualität und Politik.

​​ Mariam al-Saadi zögert vor der Lesebühne in der Basler Messehalle, wo sie ihr erstes Buch in deutscher Übersetzung vorstellen wird. Sie lässt dem syrisch-deutschen Übersetzer und Publizisten Suleiman Tawfik den Vorrang und setzt sich dann in den roten Sessel neben ihn.

Während Tawfik eine Einführung in die Literatur aus dem Arabischen Emiraten gibt, richtet Mariam al-Saadi ihr Kopftuch neu und schaut verstohlen ins Publikum. Es ist ihre erste Lesung. In den Emiraten sind Autorenlesungen - und überhaupt Literaturveranstaltungen - nicht üblich. Mariam al-Saadi gehört zur Generation der Autoren und Autorinnen, die ihre Texte vorwiegend im Internet publizieren.

Die Literatur aus der Golfregion ist noch jung. Erst seit dem Ölboom nimmt man sie international wahr. Die rasante technologische Entwicklung des Landes steht in deutlichen Gegensatz zu den Traditionen der Stammesgesellschaft und verursacht Spannungen.

Spannungen zwischen den Generationen

Das Gefühl der Entfremdung von den eigenen Traditionen spiegelt sich in der Literatur dieser Region wider, so auch bei Mariam al-Saadi. In ihrer Geschichte "Die Alte", die sie in Basel vorliest, werden die Spannungen zwischen den Generationen einer Familie bis zur Sprachlosigkeit deutlich.

Die Großmutter wird zwar versorgt, wie es sich gehört, doch man nimmt ihr alles, was ihr etwas bedeutet. Als sie stirbt, wird sie "standesgemäß" begraben, und sogar der ausgewanderte Sohn kommt zur Beerdigung: "Denn sonst würden die Leute darüber tratschen, warum er nicht zur Trauerfeier seiner Mutter gekommen sei."

Mariam al-Saadi bekennt sich zu ihren Traditionen. Seit sie 14 Jahre alt ist, trägt sie das islamische Kopftuch und hat kein Problem damit. Trotz ihrer Berufstätigkeit und obwohl bereits 35-jährig, lebt sie in ihrem Elternhaus, da sie noch unverheiratet ist.

Mariam al-Saadi und Suleiman Tawfik; Foto: Susanne Schanda
Der Publizist Suleiman Tawfik (rechts im Bild) führt auf dem Baseler Buch- und Literaturfestival in die Literatur der VAE ein und übersetzt die Kurzgeschichten der Schriftstellerin Mariam al-Saadi (links im Bild).

​​ "Die Großfamilie ist die Basis unserer Gesellschaft. Selbst für einen Mann ist es schwierig, selbständig außerhalb der Familie zu leben, für eine Frau gilt das noch viel mehr", sagt die Autorin, die ihren Lebensunterhalt als Werbetexterin bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in Abu Dhabi verdient.

"Meine Generation lebt im Beruf ein sehr modernes Leben. Gleichzeitig müssen wir uns in der Familie den Traditionen unterordnen. Seit sich unser Land so schnell modernisiert und die Bevölkerung zu 80 Prozent aus Ausländern besteht, wird die Rückbesinnung auf die Tradition noch stärker, aus Angst, die eigene Identität zu verlieren", erklärt die Autorin.

Das Gleichgewicht zwischen Eigenem und Fremdem zu bewahren sei nicht leicht, die Spannungen und Widersprüche im täglichen Leben allgegenwärtig.

Zwischen Tradition und Fortschritt

Mariam al-Saadi behauptet, sich nicht mit großen gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen, doch verraten ihre Geschichten über zwischenmenschliche Beziehungen und subjektive Befindlichkeiten viel über die Spannungen einer Gesellschaft, die ihren Weg zwischen Tradition und Fortschritt erst noch finden muss.

Mariam al-Saadi hat die westliche Welt bereits als Kind über Bücher und Filme entdeckt. Sie studierte Englische Literatur und Stadtplanung und beschäftigte sich anschließend an der Universität von Aberdeen in Schottland mit Islamic Jerusalem Studies.

Schon früh hatte sie das Gefühl, eine Schriftstellerin zu sein, lange bevor sie zu schreiben begann, wie sie nach der Lesung erzählt: "Ich wollte mit dem Schreiben warten, bis ich mir mein Leben eingerichtet hatte, eine Ausbildung und einen Beruf. Und plötzlich merkte ich, dass nur die Zeit verging, nichts sich klärte und ich immer noch nicht schrieb."

Das war 2005. "Ich setzte mich hin und begann, diese Kurzgeschichten hervorzubringen, wann immer sie sich zeigten. Denn Ideen hatte ich immer." Mariam al-Saadi publizierte in Zeitschriften und im Internet und weckte bald das Interesse eines Verlegers.

Mariam al-Saadi; Foto: Susanne Schanda
Mariam al-Saadis Geschichten über zwischenmenschliche Beziehungen und subjektive Befindlichkeiten verraten viel über die Spannungen in ihrer Gesellschaft.

​​2009 erschien ihr erster Erzählband auf Arabisch in den Emiraten, der jetzt unter dem Titel "Mariam und das Glück" von dem kleinen Schweizer Lisan-Verlag auf Deutsch publiziert wurde, subventioniert von der staatlichen Kulturstiftung Abu Dhabi Authority for Culture & Heritage.

"Wir sind eine glückliche Autorengeneration, die sowohl beim Publizieren wie beim Übersetzen großzügig unterstützt wird", sagt Mariam al-Saadi, schränkt dann allerdings ein, dass in den Emiraten - wie in der übrigen arabischen Welt allgemein - sehr wenig Literatur gelesen werde. Die Regierung, die auch die Ausbildung von Mädchen gezielt fördere, sei fortschrittlicher als die Mehrheit der Bevölkerung.

So weltoffen sich das Land gegen außen gibt, die traditionellen Strukturen der Stammesgesellschaft prägen das Leben noch heute und bringen zahlreiche Tabus mit sich. Wie in den anderen arabischen Staaten gibt es für Schriftsteller auch hier sensible Themen, die leicht der Zensur zum Opfer fallen.

Blick auf den gesellschaftlichen Alltag

"Religion und Glaube, Sexualität und am heikelsten ist die Politik", sagt Mariam al-Saadi. Sie selbst meidet diese Themen, allerdings nicht aus Angst vor der Zensur, wie sie versichert: "Ich glaube nicht, dass man durch Provokation etwas verändern kann. Mein Interesse gilt den alltäglichen menschlichen Geschichten, den Beziehungen zwischen Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und Kulturen."

Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat bereits zahlreiche Erzählungen geschrieben, aber bisher keinen Roman. "Ich schreibe Kurzgeschichten, weil ich einen kurzen Atem habe", sagt sie: "Schon mehrmals machte ich mich daran, einen Roman zu schreiben, doch jedes Mal wurde der Anfang des Romans zu einer abgeschlossenen Kurzgeschichte."

Jetzt hat Mariam al-Saadi wieder ein neues Romanprojekt: "Ich hoffe, dass er nicht wieder als Kurzgeschichte endet", sagt sie lachend.

Die kurze Prosaform scheint den Schriftstellern am Golf zu liegen. Der Lisan-Verlag hat in diesem Herbst sechs Bände ausschließlich mit Kurzgeschichten von Autorinnen und Autoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten auf Deutsch publiziert.

Susanne Schanda

&copy Qantara.de

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