Das Kino ist zu schnell fürs Bilderverbot

Gibt es ein "islamisches Kino"? Die westliche Kritik tut sich schwer mit dem arabischen Film. Die Debatte um das Bilderverbot im Islam klammert den Film bislang aus. Ein Essay des Kunsthistorikers Hans Belting

Hans Belting; Foto: Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe
"Die Bilderfrage, die derzeit in der Debatte um 'den Islam' Konjunktur hat, wird selten auf den Film bezogen, der nur aus Bildern besteht und deswegen in dieser Frage an erster Stelle stehen müsste", stellt Hans Belting fest.

​​ Regisseure aus der arabischen Welt oder Iran sind eine vertraute Erscheinung in der Filmwelt geworden. Mohsen Makhmalbaf, der inzwischen mit seinen Töchtern Samira und Hana ein florierendes Familienunternehmen betreibt, hat seit langem einen festen Platz in unserer Kino-Erfahrung. Und doch bleibt die Frage, wie eine Filmkritik mit Regisseuren umgeht, deren Umwelt sie nicht kennt und deren Werk sie nur mit den Kategorien beurteilt, die gewöhnlich für Filmkunst zur Verfügung stehen.

Dieser Frage nimmt sich ein Sonderband der britischen Zeitschrift "Third Text" (Januar 2010) an, der von dem Journalisten und Historiker Ali Nobil Ahmad als Gast betreut wurde.

Schon die Themenwahl "Kino in muslimischen Gesellschaften" wird in der Einleitung mit der Feststellung problematisiert, dass muslimische Gesellschaften in Asien, dem Nahen Osten oder in Afrika kaum vergleichbar sind. Der Herausgeber erklärt einem Experten, der die Einladung für diesen Band ablehnte, die Absicht, die Kategorie "islamisches Kino" im Blick auf ganz verschiedene Gesellschaften, die dabei zusammengeworfen werden, als ein Klischee zu entlarven, das nur ein westliches Distanzbedürfnis befriedige.

Akademische Totengräber des Kinos

Doch geht es darüber hinaus um den westlichen Blick auf eine Filmproduktion, in der sich die ganz unterschiedliche Wirklichkeit der Gesellschaften spiegelt, die man als "islamische" bezeichnet.

​​ Scharf geht Hamid Dabashi, der an der Columbia University in New York "Iranian Studies" lehrt, mit der Diskussion um den Film "Paradise Now" ins Gericht, der 2005 beim Europäischen Filmpreis für das beste Drehbuch und 2006 mit einem Golden Globe als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet wurde. Er war mit dem Regisseur Hany Abu-Assad nach Palästina gereist und hatte die Erfahrungen kennengelernt, die dessen arrested aesthetics zugrunde liegen.

Die Filmkritik ebenso wie die akademische Anthropologie der "Visual Studies", so der Autor, habe nur einen Blick für die Werkform gehabt, deren politische Dimension man verdränge.

Auf eine solche Weise beschleunige Filmwissenschaft den "Tod des Kinos" und werde Ethnologie "zum grotesken Begräbnis für jede Form von Kunst, über die sie handelt", denn sie sauge das Leben auf, mit seinem Schmerz und seiner Lust, und neutralisiere die Auflehnung im Stoff. Deshalb sei man betriebsblind für den palästinensischen Film mit seinem "traumatischen Realismus", in dem sich eine tiefreichende "mimetische Krise" des Filmgenres zeige.

Dominanz des westlichen Blicks

Diese Kritik geht weit über den Anlass und das Medium Film hinaus, denn sie weist den akademischen Anspruch auf Deutungshoheit zurück, dem auch die nicht westliche Gegenwartskunst im Zeitalter der Globalisierung unterworfen wird.

Selbst im Zeichen von Liberalität und Offenheit stellt sich rasch das Gefälle zwischen dem westlichen Blick und der übrigen Welt wieder her, wobei Kontrolle über Neugier siegt. Das Gefälle verstärkt sich dort, wo Filmkritik, ebenso wie Kunstkritik, in Schwellenländern unterentwickelt ist und deshalb die professionelle Bewertung wieder den alten Deutungsträgern zufällt.

Regisseur Hany Abu-Assad; Foto: AP
"Dieses Ende ist viel stärker, weil wir die Bilder nach dem Anschlag aus den Medien bereits kennen, die Bilder vor dem Anschlag jedoch nicht", sagt Regisseur Hany Abu-Assad über seinen Film Paradise Now, der mit einem Selbstmordanschlag endet.

​​ Zwar ist der westliche Blick kein Sündenfall, sondern im Grunde für uns unentrinnbar, doch sollten wir nicht das Bewusstsein davon verlieren, dass er westlichen Denkmustern unterliegt und anderen Kulturen und deren visuellen Traditionen nicht gerecht werden kann.

Im Falle des Films liegt das Besondere darin, dass er nicht nur für den westlichen Markt und für westliche Interpreten produziert wird, sondern auch und zuerst ein großes Publikum am Ort anspricht.

Umso offensichtlicher ist die Asymmetrie, die zwischen der Rezeption bei westlichen Filmfestivals und der Aufnahme am Ort eingetreten ist. Darin relativiert sich wieder der Vorteil, den der Film gegenüber der Kunstwelt besitzt, denn die bildende Kunst muss auf dem Markt verkauft und an Orten ausgestellt werden, die nur das Kunstpublikum aufsucht und in manchen Schwellenländern noch gar nicht existieren.

Der Film hat es eher mit Produktionskosten zu tun, die aufgebracht werden müssen und oft nur durch Kooperation mit westlichen Stiftungen zustande kommen. Gegenüber der bildenden Kunst, die selbst in der Installation ein exklusives Medium bleibt, wird der Film auch von der Gesellschaft wahrgenommen, in welcher und für welche er gedreht wurde.

Vergessene Bilderfrage

Die Bilderfrage, die derzeit in der Debatte um "den Islam" Konjunktur hat, weil sie eine eilige Orientierung verspricht, wird selten auf den Film bezogen, der nur aus Bildern besteht und deswegen in dieser Frage an erster Stelle stehen müsste.

Durch die modernen Medien und durch das Fernsehen hat sich auch da, wo Kinotheater fehlen, in islamisch geprägten Gesellschaften das Bildersehen in der Öffentlichkeit durchgesetzt. Aber diese Bildproduktion folgt Konventionen des Sehens und unterliegt außerdem der politischen oder der Selbstzensur.

Inzwischen haben Filme in solchen Gesellschaften alle Varianten von der Folklore bis zur Filmkunst, vom Märchenfilm bis zum allegorischen Drama oder aber zum Dokumentarfilm durchlaufen, indem sie Grenzen durchbrechen, die sie nicht mehr anerkennen. Dabei ist die Alternative zum westlichen Film, dessen Schatten die Filmemacher loswerden wollen, explizit oder implizit so präsent, dass Filmkriterien nicht greifen können, gegen welche sich die Regisseure entschieden haben, und Missverständnisse, trotz aller Begeisterung über eine exotische Ästhetik, unvermeidbar erscheinen.

​​ Auch in dieser Hinsicht ist der hier besprochene Band aufschlussreich, denn er schließt unter den Autoren einige Engländer ein, welche über die kulturell gesetzten Grenzen hinausschauen können.

Da ist eine Autorität wie Roy Armes zu nennen, der 2008 ein Handbuch für afrikanische Filmemacher herausgebracht hat. In seinem Text über die "poetische Vision" des großen Nacer Khemir, der 1948 in Tunesien geboren wurde, beruft er sich auf Selbstaussagen des Filmemachers, dass seine narrativen Filme von der Tradition des "oral story telling" leben und mit der Schönheit der Miniaturmalerei rivalisieren, wenn sie zum Beispiel den Traum von einem unsichtbaren Garten entwerfen.

In einem anderen Beitrag ist vom "goldenen Zeitalter" in Pakistans Kino die Rede, dem seit den 1980er Jahren eine filmische Welle mit Themen des Horrors folgte.

Rachel Dwywe, die "Indian Cultures and Cinema" in London lehrt, untersucht die neoethnische Bildpolitik im Hindi-Film. So zeigt sich bald, wie sinnvoll es ist, Kulturen in den Filmen kennenzulernen, in denen sie sich ausdrücken. Am Ende widerlegt der Band mit Leichtigkeit das Klischee von einer monolithisch "islamischen Welt".

Überholte Denkmuster

Rashed Araeen, der Gründer und langjährige Herausgeber von "Third Text", hat mit dieser Zeitschrift 1987 ein in der Welt einzigartiges Organ mit "kritischen Perspektiven auf zeitgenössische Kunst und Kultur" eingerichtet. Der Begriff der Dritten Welt ist inzwischen überholt, doch sind es die Perspektiven noch lange nicht.

Der Künstler ist in den sechziger Jahren aus Pakistan nach England eingewandert und dort in den Konflikt mit der herrschenden Kunstszene geraten, so dass ihm der Zutritt zu Ausstellungen verwehrt wurde und er selbst Ausstellungen organisierte, in denen er "die andere Geschichte" der modernen Kunst vorstellte. Aus Solidarität mit all den Künstlerkollegen, denen Ähnliches widerfuhr, stilisierte er sich zeitweise als "Black Artist", um sein Anderssein zu markieren.

Unbestreitbar ist seine Leistung als Speerspitze einer Opposition gegen die Ausgrenzung durch eine offizielle Kunstszene, die sich als universal gerierte, und gegen eine Bevormundung durch die sogenannte Moderne.

Seiner Zeitschrift, die in hundertzwei Nummern ihr intellektuelles Niveau fast mühelos gehalten hat (leider ist sie hierzulande kaum in Bibliotheken anzutreffen), ist es auch gelungen, die Gettoisierung der Kunst zu durchbrechen und, wie die Beiträge von Schriftstellern und Philosophen zeigen, Kunst und Kultur als Einheit zu begreifen.

Hans Belting

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010

Von dem Kunsthistoriker Hans Belting erschien zuletzt "Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks".

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

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