Alles Fassade

Baufirmen statt Restauratoren: Seit Jahren wird Istanbuls Altstadt gezielt kaputt saniert, deshalb droht Europas Kulturhauptstadt 2010 diese Woche eine große Blamage. Die Unesco will sie jetzt von der Liste des Weltkulturerbes streichen. Von Kai Strittmatter

Ortaköy-Moschee am Bosporus-Ufer; Foto: AP
"Die Minarette und die Möwen, das ist die gute Nachricht, sind nicht in Gefahr. Der Rest schon." Istanbul ist eine geprügelte Stadt, so Kai Strittmatter.

​​ Istanbul – Eine grandiose Stadt ist das. Eine geprügelte Stadt. So sieht es Korhan Gümüs, der Architekt: "Mal verliert die eine Partei die Wahlen, mal die andere. Istanbul verliert jedes Mal. Seit der Gründung der Republik." Vielleicht auch schon länger. Wer hier mit dem Spaten in die Erde sticht, der kann Byzanz und Rom gar nicht verfehlen: 2500 Jahre liegen hier Schicht um Schicht aufeinander, begraben und vergessen.

Der osmanischen Sultansstadt wenigstens sollte dieses Schicksal erspart bleiben. Die Türken wollten das Erbe ihrer Vorfahren bewahren, die Unesco erklärte die Altstadt 1985 zum Weltkulturerbe. Jene Landzunge zwischen Marmarameer und Goldenem Horn, deren Silhouette im Abendrot, dann, wenn ganze Wolken von Möwen die Minarette von Blauer Moschee und Hagia Sophia umkreisen, noch jeden entwaffnet hat.

Die Minarette und die Möwen, das ist die gute Nachricht, sind nicht in Gefahr.

Hagia Sophia; Foto: Wikipedia
"Krachende Ohrfeige für die Behörden": Hinter den Kulissen versucht die Politik, Druck auf die Unesco auszuüben, ihre Drohung nicht wahr zu machen. Im Bild: Die Hagia Sophia, erbaut im 6. Jahrhundert.

​​ Der Rest schon. Nervöse Spannung liegt über der Stadt, Fassungslosigkeit: Die Unesco möchte Istanbul den Weltkulturerbestatus aberkennen. Die Altstadt soll auf die rote Liste des gefährdeten Kulturerbes. Und nicht wenige nicken leise: Da gehöre sie auch hin. Aber was ist das für eine krachende Ohrfeige für die Behörden, was für ein Skandal, wenn's denn passiert: ausgerechnet jetzt, wo die Stadtväter sich brüsten mit dem Titel Europas Kulturhauptstadt 2010.

Verlust des Zaubers

Wer wissen möchte, wie es dazu kam, der kann einen Spaziergang in den Vierteln Fener und Balat beginnen. Das orthodoxe Patriarchat der Griechen hat hier seinen Sitz, hier lebten einst Armenier, Juden, Bulgaren. Putzige Quartiere noch voller alter osmanischer Holzhäuser. Die Unesco schrieb ein Projekt aus zur Rettung der Häuser. Britta Wienholz, eine Deutsche, verliebte sich in ein solches Anwesen, wildkirschrot, halb verfallen, mit einem Garten, dem sie schon damals, als er noch eine Müllhalde war, das Idyll ansah, das er heute ist.

Seit zwei Jahren lebt sie hier. Vom Dach aus blickt sie auf das Wasser des Goldenen Horns. Sie kann noch immer nicht fassen, dass alles so anders lief, als die Denkmalschützer sich das vorgestellt hatten. Was die Stadt nun vorhat mit Balat. "Noch ist das für mich nicht reell", sagt sie. "Also versuche ich, mich noch nicht aufzuregen."

Zuständig für diesen Teil der Stadt ist die Gemeinde Fatih. Als die Unesco kam, mit Geld und Know-how, rührte die Gemeinde nicht nur keine Hand, um das Projekt zu unterstützen – sie setzte alles daran, um es zu sabotieren. "Sie flüsterten den Bewohnern ein, es sei ein Geheimprojekt des griechischen Patriarchats", sagt die Anwältin Aysegül Kaya. "Das Patriarchat wolle hier mit Unterstützung der UN einen zweiten Vatikan errichten: einen unabhängigen Kirchenstaat."

Istanbuler Skyline; Foto: dpa
"Der Zauber geht verloren": Kritiker wie Murat Belge monieren, die Istanbuler Behörden strebten ungeniert nach freier Hand für Profitmacherei - ohne Rücksicht auf die einmalige kulturelle Substanz der Stadt.

​​ Verrückt? Dieser Staat hat Übung darin, Paranoia unter seinen Bürgern zu schüren. Als die Unesco-Mannschaft ausschwärmte, die Hausbesitzer mit ihrem Geld und ihren Restaurierungsplänen zu beglücken, schlugen ihnen viele die Tür vor der Nase zu. Dann kam die Stunde der Gemeinderegierung von der AKP. Mittelsmänner schwärmten aus und kauften den Bewohnern Häuser billig ab – mit der Drohung, sonst werde das Haus beschlagnahmt. Die Behörden betreiben nun ihre Art der "Restaurierung": abreißen und neu aufbauen. Im "osmanischen Stil".

Auch die Anwältin Aysegül Kaya lebt seit ein paar Jahren hier. "Sie sagen, die alten Häuser wären nicht erdbebensicher. So ein Unsinn. Nun bleiben nur die Fassaden stehen. Das Viertel wird ein riesiges Immobilienprojekt." Kaya hat eine Bürgerinitiative gegründet. Sie ist zornig: "Hunderte Häuser haben sie schon abgerissen. Das ganze Gebiet innerhalb der Stadtmauern fällt der Vetternwirtschaft zum Opfer. Den Spekulanten."

Politik à la Turka

Korhan Gümüs sagt, die Stadtregierung mache aus einem lebenden Viertel ein osmanisches Disneyworld. Sie habe das Unesco-Projekt zu Fall gebracht, weil sie es nicht kontrollieren könne: "Es wäre ein Modellprojekt geworden. Transparent, mit Nachbarschaftsbeteiligung. Ein Erfolg des Projektes hätte Bedeutung weit über das Viertel hinaus gehabt: Es hätte gezeigt, dass Politik à la Turka nicht mehr funktioniert. Auch deshalb musste es scheitern."

Politik à la Turka? "Der Staat verzichtet auf Expertenwissen, auf die Intelligenz der Gesellschaft. Er handelt technokratisch. Statt Architekten oder Denkmalschützern beauftragt er Baufirmen. Das Ergebnis sind Korruption und Ungerechtigkeit. Die Behörden vertreten die Interessen der Mächtigen, der Unternehmer."

Gümüs ist nicht irgendein Architekt. Er ist im Kulturhauptstadt-Komitee der Mann für die stadtplanerischen Projekte. Er war Vertreter der Türkei bei der Weltkulturerbe-Sitzung der Unesco 2006. Er war eine treibende Kraft hinter dem Bestreben der Stadt, europäische Kulturhauptstadt 2010 zu werden. "Weil ich dachte: Das hilft uns, endlich unser Kulturerbe-Problem zu lösen." Es half nicht.

Dicht bebautes Stadtviertel Istanbuls; Foto: dpa
Unheimliche Verwandlung von einem lebenden Viertel ein osmanisches Disneyworld: "Der Staat verzichtet auf Expertenwissen, auf die Intelligenz der Gesellschaft. Er handelt technokratisch", so Korhan Gümüs.

​​ Die Unesco droht Istanbul seit Jahren mit der roten Liste. Es geht nicht nur um die Viertel Fener und Balat. Die Ignoranz zeigt sich auch anderswo: bei der geplanten Metro-Brücke über das Goldene Horn oder bei den römischen Stadtmauern – auch hier wurden Baufirmen mit der Restaurierung beauftragt, nicht Archäologen. Es gab Versprechen, keines wurde gehalten. Nun passiert, was die Regierung nicht für möglich gehalten hat: Unesco-Experten legten im Juni jenen Bericht vor, der empfiehlt, Istanbul von der Weltkulturerbeliste zu streichen. Nächste Woche trifft sich die Unesco in Brasilien, um darüber zu entscheiden.

Es gibt Leute wie den Autor Murat Belge, die den Behörden unterstellen, damit hätten sie erreicht, was sie wollten – freie Hand für Profitmacherei und für jene Vorstellung von Moderne, die dem westlichen Denken der sechziger und siebziger Jahre entspringt. Aber es ist bei der Regierung auch Panik zu spüren, Angst vor der Blamage.

"Die Türkei übt großen Druck aus auf die Unesco hinter den Kulissen", sagt Korhan Gümüs. "Es wäre ein Riesenskandal." Der Architekt bleibt Optimist. Ja, er habe viele Schlachten verloren. "Aber in jeder Niederlage zeigt sich ein Stückchen mehr, dass wir auch gewinnen können." Istanbuler Langmut. Derweil regnet es weiter Prügel.

Kai Strittmatter

© Süddeutsche Zeitung 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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