Von der rätselhaften Schönheit der Wirklichkeit

Semih Kaplanoglu ist einer der prominentesten Repräsentant des neuen, international erfolgreichen türkischen Kinos. Amin Farzanefar sprach mit ihm über sein preisgekröntes Werk "Bal – Honey" und über das historische Gefühl der verlorenen Zeit in der Türkei.

Regisseur Semih Kaplanoglu; Foto: AP
"Ich glaube, dass die Wirklichkeit schön ist!" Semih Kaplanoglu mit der Trophäe des Goldenen Bären auf der Berlinale 2010

​​ Semih Kaplanoglus mit dem Goldenen Bären ausgezeichnetes Werk "Bal – Honey" bietet ein poetisches Kino für die Sinne, bei dem die Tonspur ebenso wichtig ist wie die großartige Kameraarbeit. Der Film folgt dem siebenjährigen Yusuf, der allmählich realisiert, dass sein Vater, ein naturverbundener Imker, nicht mehr aus den dunklen Wäldern zurückkehren wird. "Bal" ist Abschluss einer chronologisch rückwärts erzählten Trilogie über den Dichter Yusuf, die auch vom allmählichen Verschwinden ländlicher Traditionen in einer unweigerlich vom Modernisierungssog erfassten Türkei erzählt.

Ihre Filme sind mit vielen, vielen Rätseln aufgeladen – was den zeitlichen Ablauf betrifft, die Chronologie, die Bilder. Manche preisen ihr Tempo, ihren Stil als hoch poetisch, anderen erscheint es manieriert und langweilig.

Semih Kaplanoglu: Ein bisschen Langeweile ist durchaus okay. Insgesamt geht es mir darum, einen Rhythmus zu finden zwischen Schauspielführung, Kamera, Ton usw., also zwischen allen Elementen des Filmes, eine Harmonie anzustreben. Dies setze ich eigentlich der Geschwindigkeit des Kinos entgegen, die ja von der Geschwindigkeit des heutigen Lebens vordiktiert wird. Demgegenüber ist es mir wichtig, meinen eigenen Rhythmus, mein eigenes Tempo zu finden.

​​ Bei ihren Charakteren scheint diese Harmonie, dieser Rhythmus gestört. In allen drei Teilen scheinen sie an einem Mangel, einem Verlust zu leiden. Was fehlt ihnen?

Kaplanoglu: In der türkischen Geschichte setzt Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reform- und Modernisierungsperiode ein – die Tanzimat-Epoche. Und bis in die 30er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein hatte sich das in Literatur und Kunst insbesondere durch ein Gefühl der verlorenen Zeit ausgedrückt. Dieses Gefühl, in der Zeit, in der sich man sich befindet, nicht zuhause zu sein, hat sich auch auf den Raum übertragen, und wir sind jetzt in einer Phase, in der es auch um den verlorenen Raum geht. Damit meine ich weniger konkrete geografische Orte, als vielmehr das Gefühl, sich nicht mehr verorten zu können. Dieses Gefühl, das meines Erachtens viel mit Modernität zu tun hat, versuche ich in meinen Filmen zu reflektieren.

Sie erzählen das in zumindest für westliche Zuschauer sehr rätselhaften Bildern, die häufig als Symbole gedeutet werden. Sie erwidern, viele dieser Bilder wurzelten einfach in lokalen Traditionen, in konkreten Ursprüngen.

Kaplanoglu: Ich bin kein großer Fan symbolischer Bilder, im Gegenteil versuche ich all die konkreten Details, die Lokalität, das spezifisch Örtliche in den Film zu transportieren, und das Rätselhafte liegt nicht zuletzt daran, dass wir unserem eigenen Wahrnehmen, unserem eigenen Sehen nicht so blind vertrauen sollten. Es gibt vielmehr verschiedene Ebenen von Wahrnehmung und es lohnt sich, genauer hinzusehen, weil viele Dinge, die wir in der Wirklichkeit vorfinden, tatsächlich sehr rätselhaft sind.

Dabei frage ich mich natürlich auch, ob sich bestimmte Details in dramatische Elemente umsetzen lassen, um die Handlungen voranzubringen.

​​ Also, ob Sie es wollen oder nicht: Ihre Bilder werden symbolisch verstanden?

Kaplanoglu: Ich möchte Filme machen, die verschiedene Bedeutungsebenen haben und von verschiedenen Menschen je nach ihrem eigenen Leben, ihrer Herkunft oder dem geografischen Ort, an dem sie sich befinden, verschieden gelesen werden können. Das ist auch einer der Gründe, warum diese Filme als rätselhaft erscheinen können.

Als ich "Yumurta" [den ersten Film der Trilogie] in Iran gezeigt habe, kamen einige Zuschauer auf mich zu und sagten: 'Diese Szene mit dem Hund, der Yusuf eine Nacht lang gefangen hält, das ist ja eine Referenz an Rumis Masnavi. Sie haben den Konflikt zwischen Ego und der Seele auf wunderbar poetische Weise dargestellt: der Hund repräsentiert genau wie bei Rumi das Ego des Menschen und der junge Mann ist eben die Seele!' Ich musste sie enttäuschen: Ich habe eine Geschichte dargestellt zwischen einem Hund und einem jungen Mann, genauso wie sie mir einmal passiert ist. Aber mir hat diese Interpretation gefallen, weil ich als Regisseur auch von Rumis Weltsicht beeinflusst bin.

Ihre Trilogie spiegelt auch einen sozialen Umbruch in einem traditionellen Landstrich wider. Trotz realistischer und auch ethnografisch genauer Beobachtungen haben Sie sich für eine "Ästhetik des Schönen" entschieden. Warum?

Kaplanoglu: Ich glaube, dass die Wirklichkeit schön ist! Und ich bin mit Lyrik aufgewachsen: In unserer Kultur werden Gefühle mit Lyrik ausgedrückt – oder zumindest wurden sie es solange, bis das Kino erfunden wurde. Ich komme aus dieser Tradition, und für mich ist es selbstverständlich, dass auch ein filmisches Werk ein lyrisches Grundgefühl haben sollte.

Ihre Filmsprache erscheint geprägt von internationalen Meistern, innerhalb des türkischen Kinos positionieren Sie sich zwischen Nuri Bilge Ceylan, Zeki Demirkubuz, Yesim Ustaoglu und Reha Erdem. Andererseits gibt es auch außerfilmische Einflüsse.

​​ Kaplanoglu: Es gibt auch ein paar wichtige klassische Regisseure, die ich sehr mag, aber sie gehören nicht zu meinen Haupteinflüssen, dennoch wären Metin Erksan und Ömer Lutfi Akkad zu nennen. Wichtiger als all das ist für mich die Beschäftigung mit den Wurzeln, den traditionellen Künsten des Ostens. In Anatolien gab es über Jahrhunderte hinweg und bis vor wenigen Jahrzehnten eine sehr stark ausgeprägte orthodox-christliche Tradition und natürlich eine islamische Tradition, und die sind für mich wichtige Einflüsse.

Wie ist das, wenn man so ein grundsätzliches humanistisches oder spirituelles Thema verarbeitet und dann auf einmal erfolgreich ist: Ist das eine Gefahr für die eigenen Grundsätze – und wie schützt man seine Grundsätze?

Kaplanoglu: Nun, ich glaube, wir sind in einem Umfeld, in dem selbst die Flucht vor der Eitelkeit sich noch als Eitelkeit manifestieren würde, da kommt man nicht wirklich raus. Was ich mache, ist noch mehr die Einsamkeit suchen, die Begegnung mit der Natur, mehr nachdenken.

Ich glaube das wichtige ist, die ursprüngliche Intention und das Feeling, das einen dazu gebracht hat, Filme zu machen, nicht zu verlieren. Und Erfolge oder Misserfolge sollten einen nicht veranlassen, den eigenen Weg oder die eigenen Methode zu ändern, da gibt es andere Gründe, aber nicht externe.

Interview: Amin Farzanefar

© Qantara.de 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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