Dichtung als universelles Ausdrucksmittel

Die marokkanische Lyrikerin Siham Bouhlal hat sich als Übersetzerin von Texten vom Arabischen ins Französische aus dem Mittelalter und der Gegenwart einen Namen gemacht. Sie ist derzeit Stipendiatin im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich bei Köln. Martina Sabra hat sie getroffen.

Siham Bouhlal; Foto: privat
"Tabus brechen zu wollen, halte ich für Zeitverschwendung", sagt die Lyrikerin Siham Bouhlal.

​​ Siham Bouhlal, Sie sind zurzeit Stipendiatin im Heinrich-Böll-Haus bei Köln, was nehmen Sie aus dieser Zeit mit?

Siham Bouhlal: Zunächst einmal fand ich es sehr spannend, mich mit Heinrich Böll zu beschäftigen. Ich habe in den letzten Monaten einiges von ihm gelesen und empfand ihn als sehr präsent. Es ist auch sehr inspirierend, mit Künstlerkollegen aus aller Welt Tür an Tür zu wohnen.

Und dann die Lage des Hauses: Die Natur, die Elemente, der Wald, die Hügel; wie der Körper beim Spazierengehen mit der Umgebung verschmilzt; die Ankunft des Herbstes, die leuchtenden Farben der Blätter; welche Schwingungen das im Körper auslöst, welche Empfindungen – das sind Dinge, über die ich im Moment schreibe.

Ich habe hier ein ganz neues, inniges Gefühl für Bäume entwickelt. Ich schreibe Gedichte, die mich teilweise selbst überraschen. Ich habe Dinge gefunden, die ich schon in mir trug, die ich aber nicht ausdrücken konnte.

Sie sind 1966 in Casablanca geboren und dort aufgewachsen. Seit 25 Jahren ist Ihr Lebensmittelpunkt Paris, Sie haben aber auch immer wieder länger in Rabat gelebt. Sehen Sie sich als eine maghrebinische Autorin?

Paul Celan; Foto: dpa
"Paul Celans Gedichte über den Holocaust haben mich schon in jungen Jahren sehr tief berührt", sagt Bouhlal.

​​Bouhlal: Ich beschreibe mich selbst als "Schriftstellerin französischer Sprache". Das ist mir sehr wichtig. Ich bin keine "Maghrebinerin" und auch nicht "frankophon". Für mich ist die Dichtung ein universelles Ausdrucksmittel. Sie ist nicht an eine nationale Identität gebunden und sie lässt sich nicht in Schubladen packen.

Wenn man Lyriker, die in derselben Sprache schreiben, nach ihrer geografischen Herkunft in Schubladen unterteilt, dann empfinde ich das als einen Akt der Marginalisierung. Nehmen Sie einen Schriftsteller, der sein ganzes Leben in Marseille verbringt. Seine Art zu schreiben ist ganz anders als die eines Pariser Autors, der nicht am Meer war. Dennoch wird man nicht hingehen und sagen, dass der eine ein Marseiller oder ein Pariser Autor sei. Beide sind französische Autoren.

Welche Bedeutung haben deutschsprachige Lyrikerinnen für Sie?

Bouhlal: Einige deutschsprachige Lyriker haben mich sehr geprägt. Ingeborg Bachmann zum Beispiel, ihre Gedichte haben mich immer begleitet. Und Paul Celan: seine Gedichte über den Holocaust haben mich schon in jungen Jahren sehr tief berührt.

Celans Lyrik hat während der Zeit hier in Langenbroich noch einmal eine ganz neue Bedeutung für mich bekommen. Wir haben in Bonn das Haus der Geschichte besucht und dort Bilder von den Konzentrationslagern nach der Befreiung 1945 gesehen. Natürlich waren diese Bilder nicht neu für mich. Doch dort, in dem Museum in Bonn, lösten sie mit einem Mal etwas ganz anderes in mir aus.

Mir wurde klar, dass ich in Deutschland war, dort, wo all das real geschehen ist. Die Greuel waren nicht mehr abstrakt, sondern ich war mittendrin, ich habe es physisch erlebt. Ich nahm nur noch nackte Haut wahr, entblößte Körper und diese riesigen Augen. Ich musste die Besichtigung abbrechen.

​​Aber in Frankreich wird der nationalsozialistische Massenmord doch auch öffentlich thematisiert.

Bouhlal: Ja, aber ich habe das Thema in Frankreich anders wahrgenommen. Als Marokkanerin lebe ich dort - ob ich will oder nicht - eine andere Geschichte, die in gewissem Sinne auch eine Opfergeschichte ist. Frankreich war die Kolonialmacht in Marokko, und faktisch hat sich das nicht geändet. Auch wenn die Rhetorik heute eine andere ist – die koloniale Mentalität hat sich nicht geändert. Während meines Aufenthaltes in Deutschland ist diese Thematik in den Hintergrund gerückt und ich kann mich dem Thema Holocaust anders stellen.

Wie haben Sie den Schock überwunden?

Bouhlal: Ich habe geschrieben. Ehrlich gesagt, ich hätte nie gedacht, dass ich über das Thema schreiben würde. Ich bin Marokkanerin. Meine Generation war sehr stark für Palästina engagiert. Ich habe auch schon ganz früh den palästinensischen Dichter Mahmud Darwish kennengelernt. Meine ersten Gedichte, die ich damals noch auf Arabisch schrieb, drückten meine Solidarität mit der palästinensischen Sache aus.

Wenn man jung ist, denkt man manchmal nicht sehr differenziert. Ich denke, wir haben damals nicht ausreichend zwischen der Geschichte der Juden in Europa und dem Verhalten der israelischen Regierung zum Beispiel in Gaza unterschieden. Aber zum Glück wird man erwachsen, und man wird genauer.

Ich denke, man muss beides beim Namen nennen, den Holocaust an den Juden und die Vertreibung der Palästinenser. Aber man darf die beiden Ereignisse nicht vermengen - auf keinen Fall.

Ihre Gedichte sind oft sehr sinnlich, Sie beschreiben ihre Wünsche und Ihre Sehnsüchte teilweise sehr offen und ohne Scham. Geht es Ihnen darum, Tabus zu brechen?

Mahmud Darwish; Foto: AP
"Meine Generation war sehr stark für Palästina engagiert. Ich habe auch schon ganz früh den palästinensischen Dichter Mahmud Darwish kennengelernt", sagt Bouhlal.

​​Bouhlal: Nein. Tabus brechen zu wollen, halte ich für Zeitverschwendung. Mir geht es darum, den Körper zu befragen, die eigenen Möglichkeiten zu erforschen und diesem bewussten Umgang mit dem Körper einen poetischen Ausdruck zu geben.

Es gibt bislang keine Veröffentlichungen von Ihnen in deutscher Übersetzung. Sind Übersetzungen geplant?

Bouhlal: Ich habe eine deutsch-französische Veröffentlichung gemeinsam mit dem Maler Klaus Zylla gemacht. Dabei stand allerdings die bildende Kunst im Vordergrund. Außerdem sind in Vorbereitung auf das Poesiefestival 2010 in Berlin einige Gedichte von mir und einige Passagen meines Prosatextes "Berberprinzessin" übersetzt worden. Ansonsten sind noch keine Übersetzungen geplant.

Sie sind auch dabei, einen Gedichtband über Korsika zu schreiben. Warum Korsika?

Bouhlal: Als ich das erste Mal nach Korsika fuhr, war gerade mein Lebensgefährte Driss Benzekry gestorben. Alles in mir war tot, ich hatte keine Lust mehr zu leben. Ich war voller Trauer. Doch Korsika, die Wildheit der Landschaften, das Meer die Berge, diese rauhe Schönheit, all das hat in mir die Lebenslust wiedergeweckt, so dass ich mir sagte: nein, du musst weiterleben, denn es gibt immer noch herrliche Dinge zu leben und zu sehen. Schau dir Korsika an, diese Insel, die du nicht kanntest, hier kannst du soviel lernen. Diese Insel hat mich gerettet, in einem Moment, wo ich eigentlich weg wollte.

Lyrik ist als literarische Gattung schon oft totgesagt worden. Glauben Sie, dass die Poesie als literarische Gattung eine Zukunft hat?

Bouhlal: So lange es Dichter gibt, wird es Dichtung geben. Vielleicht gibt es weniger Leser deshalb nicht. Lassen Sie mich auch noch dies sagen: Für mich ist Dichtung nicht nur das geschriebene Stück Text. Es sind auch Gesten, Blicke, Augenblicke, ein Moment vollkommener Stille – all das kann Poesie sein.

Interview: Martina Sabra

© Qantara.de 2010

Siham Bouhlal ist derzeit Stipendiatin im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich bei Köln.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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