"Es gibt kein Recht auf Hass"

Thomas Lehr lässt in seinem von der Kritik gefeierten Roman "September. Fata Morgana" zwei Familien über den 11. September und die Folgen zu Wort kommen – in den USA und im Irak. Dafür hat sich der Autor intensiv mit dem Islam und dem Nahen Osten auseinandergesetzt. Katy Derbyshire hat das Buch gelesen.

Thomas Lehr; Foto: dpa
"Thomas Lehr ist für seine anspruchsvollen und sprachgewaltigen Romane bekannt, die oft Naturwissenschaft mit Philosophie verknüpfen", schreibt Katy Derbyshire.

​​ "September" ist ein literarisch anspruchsvoller Text. Thomas Lehr verzichtet darin weitestgehend auf Interpunktion, lässt seine Figuren fließend erzählen und abschweifen, schöne und traumatische Erinnerungen aufleben, eigene Gedichte und literarische Zitate einfügen.

Die stark rhythmische Erzählweise passt jedoch hervorragend zum verzweifelten Gemütszustand der vier Erzähler. Die Figuren treten in einen literarischen Dialog, obwohl sie sich eigentlich nie begegnen. Oder etwa doch?

Diese liebevoll gezeichneten Figuren tragen das gesamte Buch. Das sind Martin, ein deutsch-amerikanischer Germanist, der seine Tochter Sabrina und seine geschiedene Ehefrau im Flugzeugattentat auf die Twin Towers in New York verliert.

Sabrina selbst kommt auch zu Wort, neben der etwa gleichaltrigen Muna in Irak und ihrem Vater Tarik, einem westlich geprägten Arzt. Die metaphorische Klammer, der die zwei Männer und den Roman selbst zusammenhält: auch Tarik verliert Frau und Tochter in einem Attentat, auf einem Bagdader Marktplatz im Jahr 2004.

Gründliche Recherche

Thomas Lehr ist vielleicht nicht der erste deutsche Autor, der einem in den Sinn kommt, wenn man an interkulturellen Dialog denkt.

Trümmer des World Trade Centres nach 9/11; Foto: dpa
Die Anschläge vom 11. September 2001 waren für Thomas Lehr der Anlass, sich mit dem Nahen Osten und dem Irakkrieg auseinanderzusetzen.

​​1957 in der historischen Stadt Speyer geboren, studierte er Biochemie und wurde zunächst Programmierer. Seit 1999 widmet er sich ganz dem Schreiben und ist für seine anspruchsvollen und sprachgewaltigen Romane bekannt, die oft Naturwissenschaft mit Philosophie verknüpfen.

Nach 9/11 jedoch, so Lehr in einem Interview mit Deutschlandradio, verarbeitete er seinen Schock mittels Sammeln von Material zum Thema, das sich später auf den Komplex des Irakkriegs ausweitete. Er holte Rat und Lesestoff bei den Islamwissenschaftlern Stefan Weidner und Angelika Neuwirth und besuchte Syrien und Jordanien – Bagdad, erklärte Thomas Lehr an anderer Stelle, sei ihm zu gefährlich.

Wichtiger noch für den Autor: er traf sich häufig mit Exil-Irakern in Berlin, woraus eine enge Freundschaft mit dem großen irakischen Dichter Fadhil al-Azzawi entstand.

Die gefährlichen Klippen des Orientalismus umschifft

So schrieb Lehr über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg ein einfühlsames und bewegendes Doppelporträt zweier Familien in den USA und Irak zwischen September 2001 und September 2004. Und so gelingt es ihm vorbildlich, die Klippen des Orientalismus zu umschiffen.

Moschee in den Vereinigten Arabischen Emiraten; Foto: dpa
"Lehr spielt bewusst mit westlichen Vorstellungen eines exotischen Orients. Er ködert den Leser mit solchen Klischees, nur um ihn mit einem Ruck mit dem Schrecken der gewaltvollen Realität in Bagdad zu konfrontieren", schreibt die Rezensentin.

​​ Die beiden Töchter sind auf geheimnisvolle Art miteinander verbunden – Sabrina stellt sich als Mädchen eine arabische Prinzessin als Schwester vor, die die reelle Muna am Anfang verkörpert.

Jede Figur erzählt kapitelweise ihre eigene Geschichte, wobei Muna den Roman mit einer fulminanten an "tausendundeine Nacht" angelehnten Fantasie eröffnet. Sie fabuliert, dass sie unter dem Bett ihrer Großmutter liegt, während ihre ältere Schwester in ihrer Hochzeitsnacht von einem Major verführt wird.

Doch im Laufe des Romans wird Muna auf den Boden der Tatsachen geholt, denn die Affäre endet für die Schwester in den Folterkammern Saddam Husseins.

Lehr spielt bewusst mit westlichen Vorstellungen eines exotischen Orients. Er ködert den Leser mit solchen Klischees, um ihn mit einem Ruck mit dem Schrecken der gewaltvollen Realität in Bagdad zu konfrontieren – vor, während und nach dem Krieg. Gegen Ende des Buches nimmt diese Gewalt noch einmal schreckliche Formen an, wobei Muna zwischen die schiitisch-sunnitischen Fronten gerät.

Menschliches Leid als Auslöser für kritisches Denken

Bald schon dringt die Gewalt auch in das Leben von Martin und Sabrina. Auf dem Weg nach Kalifornien, um ein paar Wochen mit ihrem neuen Freund zu verbringen, besucht sie ihre Mutter am frühen Morgen des 11. September in ihrem Büro im World Trade Center.

Anschlagsserie in Bagdad; Foto: AP
Wie sein amerikanischer Gegenpart verliert auch der Iraker Tarik Frau und Tochter bei einem Anschlag.

​​ Nach dem Attentat gerät Sabrinas Vater Martin in eine Krise, in der er viel darüber nachdenkt, wie es dazu kommen konnte. In Gesprächen und in seinen eigenen verzweifelten Gedanken stellt er sich die "Jungs" vor, die hassgetrieben seine Tochter, seine geschiedene Frau und tausende andere Menschen ermordeten.

Er sucht nach Antworten, zeigt die bewegte Geschichte der amerikanisch-irakischen Beziehungen auf, recherchiert über den Islamismus, findet aber keine Gewissheit – außer, dass es "kein Recht auf Hass" für ihn gibt.

Tarik wiederum hat einen klareren, aber zynischeren Blick auf das Leben als seine Tochter Muna. Als Arzt behandelt er zuerst seine Patienten so gut es unter den Bedingungen des Embargos geht, und später zählt er die Opfer von Saddam Hussein und die der amerikanischen Bombardierungen.

Tarik zeigt uns eine Gesellschaft, die durch den Krieg und die Folgen "berberisiert" wird – Familien rücken auf engstem Raum zusammen, es wird geplündert und gekidnappt – obwohl er sich als Saddam-Gegner aus der amerikanischen Besetzung eine Verbesserung erhofft hatte.

Vorraussetzungen für den kulturellen Dialog

Dadurch, dass er diese vier so unterschiedlichen Perspektiven einnimmt, verleiht Thomas Lehr dem Buch seine dialogischen Eigenschaften: "Nur durch das Sprengen der eigenen Beschränktheit und kulturellen Perspektive gibt es eine Möglichkeit des Dialogs", erklärte er in einem Interview.

Buchcover; Quelle: Hanser Verlag
"Nur durch das Sprengen der eigenen Beschränktheit und kulturellen Perspektive gibt es eine Möglichkeit des Dialogs", erklärt der Autor Thomas Lehr.

​​ "Die Moral des Buches ist das Einnehmen der anderen Sicht. Ich will dem Leser das Gefühl vermitteln, wie es sein könnte, wenn man auf der anderen Seite steht."

Auch Thomas Lehrs Inspirationsquellen sind beiden Kulturen entnommen. Von amerikanischen Dichtern wie Walt Whitman und Emily Dickinson über Goethes "West-östlicher Divan" hin zum persischen Dichter Hafez (1319 – 1389) und dem ebenfalls persischen Universalgelehrten und Poeten Omar Khajjam (1048 – 1123), zurück zum babylonischen Gilgamesch-Epos, ist der Text mit Poesiefragmenten gespickt, literarische Rosinen im narrativen Pilaw.

Dieser Roman zeugt von großem Respekt sowohl der amerikanischen als auch der irakischen Kultur gegenüber. Er schließt mit einigen traumähnlichen Szenen, in denen die Figuren sich zufällig begegnen – vielleicht im wirklichen Leben, vielleicht in einer Art Fata Morgana.

Und mit den nüchternen Worten einer Inschrift in einer früheren Begegnungsstätte, der Alhambra in Granada: "Es gibt keinen Sieger außer Gott."

Katy Derbyshire

© Qantara.de 2010

Thomas Lehr: "September. Fata Morgana", Hanser Verlag, München 2010.

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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