«Es reicht!» - In Israel regt sich Widerstand gegen jüdische Gewaltverbrechen

Attentate jüdischer Extremisten schrecken die israelische Öffentlichkeit auf. Sie rühren an ein Tabu: Dass es so etwas wie jüdischen Terrorismus geben könnte. Von Andrea Krogmann

Zwei jüdisch-extremistische Anschläge haben in der vergangenen Woche Israel erschüttert. Ein palästinensisches Baby und eine jugendliche Israelin kamen ums Leben. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach von «zwei abscheulichen Verbrechen» und versprach eine «Politik der Null-Toleranz». Staatspräsident Reuven Rivlin sprach ein lautes «Es reicht!» - so laut, dass Morddrohungen und Hasskommentare auf seiner Facebook-Seite den Inlandsgeheimdienst Schin Bet alarmierten.

Am deutlichsten wurde die Vorsitzende der linken Partei «Meretz», Zehava Galon: Dies sei die jüdische Version des «Islamischen Staates». Mit den jüngsten Anschlägen ist in Israel ein Wort auf die politische Tagesordnung gekommen, das bisher zu den Tabus der tief gespaltenen israelischen Gesellschaft gehörte: jüdischer Terrorismus.

Anfangs waren es auf Wände gesprühte Parolen und zerstochene Autoreifen. Dann kam das Feuer. Bei einem Brandanschlag auf das Kloster Tabgha erlitten zwei Menschen eine leichte Rauchvergiftung. Die palästinensische Familie, die in der Nacht zu Freitag in Duma Opfer eines Brandanschlag jüdischer Extremisten wurde, hatte weniger Glück. Ihr 18 Monate alter Sohn starb in den Flammen, seine Eltern und sein Bruder wurden schwer verletzt. Es gibt einen Zusammenhang mit den sich seit Jahren häufenden «Price Tag»-Angriffen auf nichtjüdische heilige Stätten und Araber, glauben die Ermittler.

Ein zweiter junger Mensch musste in dieser Woche sterben. Der Täter kam, anders als die für den Brandanschlag verantwortlichen radikalen Siedler, aus dem ultraorthodoxen Milieu und hatte gerade erst eine zehnjährige Haftstrafe für ein ähnliches Verbrechen 2005 verbüßt. Seinen Hass auf Homosexuelle bezahlte eine 16-jährige Besucherin der Jerusalemer «Gay Pride Parade» mit dem Leben, fünf weitere Menschen verletzte der Messerstecher schwer.

Jüdische Gewalt müsse genauso scharf verfolgt werden wie palästinensische Gewalt, tönt jetzt immer lauter der Ruf der israelischen Straße. Zu Tausenden gingen Israelis in den vergangenen Tagen in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa auf die Straße, verurteilten die beiden Morde. Erstmals ist offiziell die Rede von jüdischem Terrorismus - in einem Land, in dem das Wort Terrorismus bislang für Gewalt aus den Reihen der Palästinenser vorbehalten war.

Das Erwachen in der israelischen Politik ist abrupt, vor allem, weil sie das Klima für Rassismus und Hass über Jahre begünstigt hat. Immer wieder signalisierte sie radikalen Siedlern, dass sich Gewalt auszahlt. Wehrten diese sich gewaltsam gegen den Abriss illegaler Bauten, genehmigte die Regierung an anderer Stelle ein Vielfaches an Neubauten. Und auch jene, die mit radikalem Gedankengut den Nährboden bereiten, sind prominent im Parlament vertreten. So kritisierte etwa nach der Messerattacke der Knessetabgeordnete Betzalel Smotrich von Netanjahus Koalitionspartner «Jüdisches Haus» Jerusalems Homosexuellenparade als «Marsch der Gräuel», die Solidaritätskundgebungen für die Opfer beider Anschläge als «linke Hexenjagd».

Die Angst vor dem jüdischen Terror wächst - und mit ihr offenbar die Bereitschaft Israels, durchzugreifen. In einem ersten Schritt weitete das Sicherheitskabinett eine bisher nur für Palästinenser geltende Sicherungsmaßregel auf jüdische Terrorverdächtige aus: Wenn sie als öffentliches Risiko gelten, dürfen sie künftig für unbestimmte Zeit, ohne Besuchsrechte, ohne Anwalt und ohne ordentlichen Prozess in Gewahrsam genommen werden.

«Es scheint jetzt das zu passieren, was ich mir schon lange erhofft habe: Der Diskurs, der in der Zivilgesellschaft längst begonnen hat, ist endlich in die Politik übergeschwappt», sagt Benediktinerpater Nikodemus Schnabel von der Jerusalemer Dormitio-Abtei, die wiederholt Opfer von jüdischem Vandalismus wurde. Dies, so Schnabel, «ist als Hoffnungszeichen zu werten». Aus dem Tabuwort «jüdischer Terror» ist eine Warnung geworden, vor der Israel nicht mehr lange die Augen verschließen kann. (KNA)

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