100 Jahre Sykes-Picot: Der lange Fluch für den modernen Nahen Osten

Vor 100 Jahren teilten die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich rücksichtslos den Nahen Osten unter sich auf - und schufen Wurzeln für die heutigen Kriege in Syrien und im Irak. Von Jan Kuhlmann

Kurz vor Weihnachten im Jahr 1915 eilte der junge britische Abgeordnete Mark Sykes in die Downing Street 10, wo er auf einen großen Auftritt hoffte. Vor dem Kabinett seiner Majestät sollte der 36-Jährige Ideen zur Zukunft des Nahen Ostens darlegen, wo gerade das Osmanische Reich um sein Überleben kämpfte.

Sykes hatte sich dank mehrerer Bücher über seine Reisen in die arabische Welt den Ruf als Kenner der Region erworben - jetzt beeindruckte er auch das Kabinett so sehr, dass sein Auftritt weitreichende Folgen hatte: Sir Mark sollte maßgeblich den modernen Nahen Osten formen - und damit auch die Grundlagen für die heutigen blutigen Konflikte in Syrien und im Irak schaffen.

Kurz darauf nämlich verhandelte der Baron im Auftrag der britischen Regierung mit dem französischen Diplomaten François Georges-Picot darüber, wie die europäischen Großmächte nach einer Niederlage des Osmanischen Reiches die arabische Welt unter sich aufteilen wollten.

Am Ende einigten sich die Unterhändler auf das berühmt-berüchtigte Sykes-Picot-Abkommen, das London und Paris vor 100 Jahren am 16. Mai 1916 unterzeichneten. Nicht nur für viele Araber gilt es bis heute als ein Beispiel rücksichtsloser Kolonialpolitik, die einzig und allein von den eigenen Interessen geleitet wurde.

Mit mehreren Federstrichen steckten «Mister Sykes» und «Monsieur Picot» die Interessenssphären ab. Sykes zog dazu eine «Linie in den Sand», wie der Historiker James Barr schreibt: von der heute israelischen Stadt Akko am Mittelmeer bis nach Kirkuk im Norden des heutigen Iraks. Das Gebiet nördlich davon kam unter französische Kontrolle, das Gebiet südlich unter britische. Nur über Palästina konnten sie sich nicht einigen. Teil der Einigung war auch das russische Zarenreich, das ebenfalls ein Einflussgebiet erhielt.

Damit zogen London und Paris nach ihren Interessen auch Grenzen, mit denen sie Fakten schufen. Die tatsächlichen Grenzen der späteren Staaten sollten zwar erst im Laufe der Jahre festgelegt werden; dennoch gingen aus dem französischen Gebiet der Libanon und Syrien hervor, aus dem britischen Jordanien und der Irak.

Noch immer leiden diese Staaten unter der Art und Weise, wie sie entstanden sind. Bis heute ringen sie um eine nationale Identität, wobei Syrien und dem Irak sogar der Zerfall droht. In beiden Ländern streben etwa die damals nicht berücksichtigten Kurden wenn nicht nach Unabhängigkeit, so zumindest nach mehr Autonomie.

Auch die Wurzeln der heutigen Konflikte in Syrien und im Irak gehen bis zum Sykes-Picot-Abkommen zurück. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat ausdrücklich den vom Westen geschaffenen Grenzen den Krieg erklärt. 2014 tauchte im Internet ein 15 Minuten langes Video der Extremisten mit dem Titel «Das Ende von Sykes-Picot» auf.

Darin prahlt ein bärtiger IS-Kämpfer: «Wir werden die Grenze (zwischen Syrien und dem Irak) niemals anerkennen.» Was die Dschihadisten mit dem 2014 ausgerufenen «Kalifat» de facto in die Tat umgesetzt haben. Sie finden mit dieser Propaganda auch deswegen Gehör, weil das Sykes-Picot-Abkommen bis heute als Verrat des britischen Königreichs an den Arabern und ihrem Streben nach Unabhängigkeit gilt.

Die Übereinkunft mit Paris stand nämlich im Widerspruch zu Zusagen, die London dem Scherifen Hussein, Herrscher in Mekka, gegeben hatte. Um ihn zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen, versprach ihm der britische Hochkommissar in Ägypten, Sir Henry McMahon, in einem Briefwechsel einen unabhängigen arabischen Staat.

Der britische Gesandte versuchte zwar, die Grenzen vage zu halten. Nach arabischer Lesart aber sollten auch Gebiete zu diesem Reich gehören, die laut Londons Vertrag mit Paris Frankreich zufielen.

Als Georges-Picot von den Zusagen an Hussein erfuhr, reagierte er völlig ungläubig, wie der Historiker Barr schreibt. Für den Diplomaten war klar: «Was die Briten wollen, ist einzig und allein, die Araber zu täuschen.»

Das unabhängige arabische Großreich sollte nie Wirklichkeit werden. Hussein Sohns Faisal reiste zwar nach dem Ersten Weltkrieg zur Pariser Friedenskonferenz, begleitet von dem britischen Abenteurer T.E. Lawrence, auch bekannt als «Lawrence von Arabien». Faisal aber fand dort kein Gehör. Die Briten waren jetzt in einer so starken Position, dass sie die Ansprüche des Scherifen ignorieren konnten.

Zum Trost erhielt Faisal den Thron des neu geschaffenen Iraks, sein Bruder Abdullah durfte im Königreich Jordanien an die Macht. Das Sykes-Picot-Abkommen war zu diesem Zeitpunkt längst bekannt. Im November 1917 veröffentlichte es die bolschewistische Führung in Moskau in den Zeitungen «Iswestija» und «Prawda» - Briten und Franzosen hätten es angesichts seiner Brisanz lieber geheim gehalten. (dpa)

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