Das Ringen um die Leitkultur

Mit seinen Thesen zur Leitkultur findet Bundesinnenmister de Maizière weiterhin Kritik, aber auch Zustimmung. Zunehmend äußern sich in der anhaltenden Auseinandersetzung Vertreter der Zivilgesellschaft und auch der Kirchen.

Das Pro und Contra um den Begriff "Leitkultur", eingeführt von dem Politologen Bassam Tibi, um einen Wertekonsens zwischen Deutschen und Migranten zu beschreiben, hält an. Dabei mischen sich in die von Bundesinnenminister Thomas de Maizière neu angestoßene Debatte sachliche Töne, wie sie der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck in einer ersten Reaktion angemahnt hatte (ID v. 3.5.2017).

Jedes Land, so der Soziologe und Integrationsforscher Ruud Koopmanns (Berlin), brauche eine Leitkultur, "und die stabilen Staaten haben auch alle eine nationale Kultur". Leider beanspruchten die Gegner die moralische Deutungshoheit und könnten Befürworter erfolgreich "entweder als rechts abwerten oder lächerlich machen". Etwas "ganz spezifisch Deutsches", so Koopmann im "Welt"-Interview, sei der Umgang mit der Vergangenheit: "Das historische Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, das ist deutsche Leitkultur." Man könne "nicht deutsch sein, ohne sich für den Holocaust zu schämen".

"Eine liberale Auslegung des Grundgesetzes ist mit der Propagierung einer deutschen Leitkultur unvereinbar", hält der Philosoph Jürgen Habermas dem CDU-Minister entgegen. Eine liberale Verfassung verlange die Differenzierung der tradierten Mehrheitskultur von einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten "politischen Kultur". Deren Kern sei "die Verfassung selbst". Falls erforderlich, so Habermas in der "Rheinischen Post", könnten Minderheiten sogar kulturelle Rechte einklagen, die ihnen erlauben, ihre Lebensform im Rahmen der gemeinsamen politischen Kultur zu wahren. Allerdings müsse die Zivilgesellschaft von eingewanderten Bürgern erwarten, dass diese sich in die "politische Kultur", die nicht statisch sei, einleben - auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lasse.

Für eine alternative Leitkultur plädierte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Diese sollte sich am Leitbild Jesu und seiner "Leitkultur der Liebe und Barmherzigkeit" orientieren. Wenn es zutreffe, dass Gott alle Menschen unabhängig von Hautfarbe, Religion und Herkunft geschaffen habe, dann seien auch "alle Menschen meine Schwestern und Brüder". Ähnlich betonte auch der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick: "Der Boden unserer Kultur und des Grundgesetzes war und ist das Evangelium und das Christentum." Dies zu erhalten, so Schick, "ist unsere Aufgabe".

Für den Hamburger Erzbischof Stefan Heße ist wichtig, "dass wir über das, was unser Land zusammenhält, im Gespräch sind". Das seien etwa das Grundgesetz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Bildung und Kultur. An dem Dialog sollten sich sowohl Einheimische als auch Fremde beteiligen. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff sprach sich für eine "freiheitlich-demokratische Leitkultur" aus. Diese dürfe aber nicht die große Weltoffenheit gefährden und müsse auch die freie Religionsausübung für die Muslime sichern.

"Wenig geeignet" für eine offene Debatte erscheint der Begriff dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen. Der Terminus sei "nicht mit klaren Inhalten" verbunden. Kultur sei ein Bereich "sich entfaltender Freiheit und sollte nicht in dieser Weise festgezurrt" werden. Clausen bedauerte, dass der Minister weder die Präsentation von 15 Thesen des Deutschen Kulturrats zum Thema am 16. Mai abgewartet noch auf diese Bezug genommen habe. Zustimmung des Theologen findet de Maizière für seine These zur Rolle der Religion in der Gesellschaft: Das Grundmodell, dass Religion auch in den öffentlichen Raum hineingehöre und sich kulturell betätigen solle, bleibe richtig. (KNA)

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