Drama nach dem Drama: Iraks archäologische Stätte Nimrud verwahrlost

In seinem Zerstörungswahn sprengte der IS die frühere assyrische Königsstadt Nimrud im Nordirak. Seit acht Monaten ist die berühmte Stätte befreit. Doch bisher geschieht nichts, um sie zu retten. Von Jan Kuhlmann

Die IS-Anhänger kamen am Vormittag ins Nachbardorf, es war gegen zehn Uhr. Abu Dschasim kann sich noch gut an diesen Tag im April 2015 erinnern. Der Mann mit Dreitagebart, Karo-Hemd und Schlappen an den Füßen wohnt im Nordirak nur wenige Kilometer entfernt von dem Gelände, das einst Zentrum eines mächtigen Großreiches war: Nimrud, vor fast 3.000 Jahren assyrische Königsstadt, Sitz eines riesigen Palastes, heute wertvolle archäologische Stätte, auf der Vorschlagsliste für das Unesco-Weltkulturerbe.

«Sie sagten: Öffnet alle Türen und Fenster», erzählt Abu Dschasim. «Es wird eine große Explosion geben.» Sechs Stunden später erschütterte eine Detonation die Region, die nicht nur die Häuser in seinem Dorf beben ließ. Mit Tonnen an Sprengstoff legten die Extremisten der Terrormiliz Islamischer Staat(IS) Nimrud in Schutt und Asche. Videos zeigen eine gewaltige Druckwelle, die einen braunen Staubpilz in den Himmel schießen lässt.

Noch mehr als zehn Kilometer entfernt seien Teile zu Boden gegangen, sagt Abu Dschasim. Die wichtigsten Überreste hatten die Dschihadisten vorher schon mit Bulldozern und Presslufthämmern zerlegt.

Gut möglich, dass die Extremisten kleinere Teile auch verkauft haben, um Geld zu machen. Abu Dschasim vermutet sogar, dass der IS Nimrud gesprengt hat, um diesen illegalen Handel zu verschleiern. Vor der Explosion habe er «seltsame Wagen» an der archäologischen Stätte gesehen, sagt er. «Vielleicht haben sie Händler hierher gebracht.»

Jetzt steht Abu Dschasim, der früher bei Ausgrabungen mithalf, zwischen dem, was die Explosion vom Königspalast übrig gelassen hat: Staub, Steine und einige Mauern, öde, braun, genauso wie das Gras, das in der Hitze neben Disteln vertrocknet.

«Da», sagt Abu Dschasim und zeigt in eine Richtung, «da gab es früher ein großes Relief, eine ganze Wand, meterlang.» Zu sehen waren Szenen von Feldzügen und Belagerungen. Ein einzigartiges Zeugnis einer vergangenen Hochkultur. Doch für den IS sind solche archäologischen Überreste Symbole des Unglaubens aus der vorislamischen Zeit, die vernichtet werden müssen. Auch in Hatra und Mossul, nicht weit von Nimrud entfernt, zerstörten die Extremisten, was die Jahrtausende überlebt hatte.

Kostbare Kulturgüter wurden wie in der syrischen Wüstenstadt Palmyra in kurzer Zeit vernichtet. «Daesch hat nichts übrig gelassen», sagt Abu Dschasim, der die arabische Abkürzung für den IS benutzt. Archäologen waren geschockt, als sie die Nachricht von der Zerstörung hörten. «Sie ist auf eine Stufe zu stellen mit der Zerstörung in Palmyra», sagt Stefan Hauser, Archäologie-Professor an der Uni Konstanz. «In Nimrud ist ein Gesamtkunstwerk der Architektur und der Skulpturen verloren gegangen.»

Noch schlimmer wird die Lage, weil die Stätte derzeit ein Drama nach dem Drama erlebt. Mehr als ein halbes Jahr ist es her, dass die Region befreit wurde. Doch bisher hat noch keine systematische Bestandsaufnahme aller Schäden begonnen.

«Bislang ist gar nichts passiert», sagt die Archäologin Laila Saleh, Ex-Leiterin der lokalen Behörde für Kulturerbe und jetzt für die Organisation Gilgamesch Center aktiv. Zuständig wäre die oberste Antikenbehörde in Bagdad. Diese aber habe ihren 300 lokalen Mitarbeitern in der Provinz Ninawa bislang nicht erlaubt, die Arbeit wieder aufzunehmen, sagt Faisal Dschaber, Vize-Chef der NGO.

Weil sie unter dem IS gelebt haben, muss das Innenministerium sie nun zuerst überprüfen. «Aber selbst nach acht Monaten hat nicht ein einziger Mitarbeiter eine Genehmigung bekommen», klagt Dschaber.

Er sieht hinter der Untätigkeit politische Gründe. Iraks Regierung wird von der Mehrheit der Schiiten dominiert - Nimrud aber liegt im Kernland der Sunniten, die sich seit Jahren über Diskriminierung beklagen. Schon seit dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein 2003 sei Nimrud vernachlässigt worden, sagt Dschaber.

Die dortigen Trümmer, archäologisch noch immer wertvoll, sind dem Wetter ungeschützt ausgesetzt. So wie die Überreste der mehr als mannshohen geflügelten Bullen, die die Palasteingänge flankierten. Sie liegen auf einem Haufen wie zusammengewürfelt. Eine Schutzfolie, die Aktivisten als Notmaßnahme ausgebreitet hatten, ist verschwunden.

Lange Zeit blieb das befreite Gelände zudem praktisch ohne Bewachung. Experten befürchten deswegen, dass auch noch Teile der verbliebenen Überreste Räuber zum Opfer fallen könnten. Zuletzt stellten Arbeiter immerhin einen Zaun fertig, finanziert von der Unesco.

Salim Chalaf, Verantwortlicher der Obersten Antikenbehörde in Bagdad, verweist auf die schwierige Sicherheitslage im Nordirak. «Wir haben erste Pläne zur Rekonstruktion, aber die lassen sich noch nicht umsetzen, weil die Befreiungsoperation in der Region noch läuft», sagt er.

Nötig seien auch die Hilfe ausländischer Helfer und gewaltige Geldsummen. Der Irak arbeite dabei mit der Unesco zusammen. Abu Dschasim bleibt immerhin die Erinnerung an den Ort, der nie wieder so sein wird, wie er einmal war. «Ich kannte diesen Platz wie mein eigenes Haus», sagt er. «Ich habe alles im Kopf gespeichert.» (dpa)