«Rohe Gewalt» gegen den Terror in Ägypten - Al-Sisis gefährliche Strategie

Eine Woche nach dem beispiellosen Blutbad haben viele Menschen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel Angst, zum Freitagsgebet zu gehen. Ägyptens Präsident Al-Sisi will Stabilität durch Gewalt erzwingen. Mit Rückendeckung des Westens könnte er damit weiteren Hass säen. Von Benno Schwinghammer

Mohamed Sabri verlor vor knapp einer Woche Bekannte und Kollegen, als eine Gruppe von Dschihadisten die ägyptische Al-Rawda-Moschee angriff. Die Freitagspredigt sollte gerade beginnen, als Explosionen das Gotteshaus in der Stadt Bir al-Abed auf der Sinai-Halbinsel erschütterten. Die Fliehenden wurden von den Tätern niedergeschossen. Unter den mehr als 300 Todesopfern ist auch Sabris ehemaliger Chef und dessen Sohn.

Es spricht Bände, wenn der ausgebildete Lehrer Sabri auf Beileidsbekundungen angesichts des schwersten Anschlags in der jüngeren ägyptischen Geschichte nur antwortet: «Ist schon gut, wir sind so was gewöhnt.» Viele Menschen auf dem Sinai trauen der Regierung in Kairo die Lösung des Konflikts nicht mehr zu. Denn seine Wurzeln liegen tief. Und wenn Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi Rache und «rohe Gewalt» schwört, könnte er der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dabei mehr helfen als schaden.

Denn bei dem IS-Ableger, der auf dem Sinai wöchentlich vor allem Sicherheitskräfte attackiert, handelt es sich um keine temporäre Erscheinung, sondern das Produkt jahrelanger Vernachlässigung eines gesamten Landesteils. Als sich Israel 1982 nach 15 Jahren von der felsigen Wüsten-Halbinsel zurückzog, sah Kairo den Sinai mehr als Bedrohung denn als Chance, schreibt der Konflikt-Experte Omar Aschur von der Universität Exeter.

«Die Bewohner des Sinai wurden eher als mögliche Informanten, mögliche Terroristen, mögliche Spione und/oder mögliche Schmuggler gesehen, denn als volle ägyptische Staatsbürger», erklärt Aschur. Dies habe zu einer Unterdrückung der Gesellschaft, vor allem der ansässigen Beduinenstämme geführt.

Ein Bewohner des Sinai erzählte Aschur vor Jahren von Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte und sagte: «Viele der jungen Männer schworen Rache.» Heute wird der IS von Teilen der Bevölkerung in der Unruheregion unterstützt. Der Nordsinai wurde niemals wirklich Teil des bevölkerungsreichsten Landes der arabischen Welt. 

Auch heute ist das militärische Sperrgebiet für alle Ausländer und viele Ägypter unzugänglich. «Auch die Einrichtungen und die Infrastruktur sind schwach», sagt der Lehrer Sabri, der vor kurzem vom Sinai nach Kairo gezogen war. «Das Viertel, in dem ich gelebt habe, hatte keine Abwasserentsorgung. Wir mussten dafür Gräben ausheben.»

Nach dem schwarzen Freitag für Ägypten und nur wenige Monate vor der angekündigten Präsidentenwahl lieferte die autoritäre Regierung des Landes dann auch die «harte Antwort», die Präsident Al-Sisi versprochen hatte. Kampfjets flogen, Stellungen von Dschihadisten sollen bombardiert und Extremisten bei Razzien getötet worden sein.

Die Soldaten und Polizisten im Nordsinai - oft nervöse Rekruten an unzähligen Checkpoints - werden besonders häufig Opfer der überfallartigen Angriffe des IS oder von Bomben am Straßenrand. Die IS-Zelle ging 2014 aus einer lokalen Gruppe hervor und bekam weltweit Aufmerksamkeit, nachdem sie 2015 einen Bombenanschlag auf einen russischen Ferienflieger für sich beansprucht hatte. 224 Menschen starben dabei.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und viele weitere Regierungen versicherten Kairo nach dem Moschee-Attentat Beistand in Sachen Terrorbekämpfung. Dabei stellt die Kriegsführung des früheren Generals Al-Sisi Berlin, Paris oder London auf eine harte Probe: Immer wieder gibt es Berichte über Menschenrechtsverstöße der Sicherheitskräfte auf dem Sinai. So berichtete Amnesty International über Exekutionen von Männern, die nicht im Kampf fielen, sondern zuvor bereits Monate in Gefangenschaft der Armee waren.

Westliche Diplomaten in Kairo lassen zwar immer wieder durchblicken, dass sie eine härtere Gangart mit dem Verbündeten für angebracht hielten. Doch mit offener Kritik halten sich die Regierungen zurück. Priorität hat ein Anliegen: ein weiteres Land in Bürgerkrieg und Anarchie, ein zweites Libyen, verhindern.

Viele Beobachter befürchten, dass sich Kairo mit seiner Vorgehensweise - auch gegen die islamistischen Muslimbrüder – neue Radikale selbst heranzüchtet. Wissenschaftler Aschur zufolge müsste die Strategie des ägyptischen Anti-Terror-Kampfes wesentlich komplexer sein, um nachhaltige Fortschritte zu machen. Ein solches Konzept muss Beobachtern zufolge auch die lokale Bevölkerung und die Beduinen einbinden.

Davon scheint das Land aber noch weit entfernt: Wie die «New York Times» berichtete, hätten amerikanische Militärs versucht, ihre ägyptischen Kollegen zum Kauf von geeigneten Waffen gegen die Guerilla-Taktik der Extremisten zu bewegen: «Aber Herr Sisi, sagen diese, hört nicht zu und seine Generäle kaufen lieber Panzer, Jets und andere schwere Waffen (...).»

Die Menschen in Bir al-Abed indes haben Angst, am Freitag wieder zum Gebet zu gehen, sagt Mohamed Sabri. Während sein ehemaliger Chef und sein Sohn im Kugelhagel starben, überlebten dessen Frau und ein weiterer Sohn. Sie stünden unter Schock, so wie der gesamte Ort. Und sie seien unglaublich wütend. (dpa)

Mehr zum Thema finden Sie in einem Bericht von Karim El-Gawhary auf Qantara.de