Vom Traum, die Uhr zurückzudrehen

Der militärische Rückzug Amerikas aus dem Irak ist ein Geschenk an den Iran. Das aber nur deshalb, weil sich die Saudis seit 2003 so verhalten haben, als fürchteten sie die irakischen – und ihre eigenen – Schiiten viel mehr, als das Regime des Iran, meint Mai Yamani.

Von Mai Yamani

Die alte englische Redensart "Einsam ist das Haupt, das eine Krone trägt" hat für Saudi-Arabiens König Abdullah buchstäblich eine neue Bedeutung bekommen. Er musste nicht nur zusehen wie seine engen regionalen Verbündeten – der ägyptische Präsident Hosni Mubarak und der jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh – gestürzt wurden, sondern auch, wie die Throne seiner königlichen Kollegen in Bahrain, Marokko und Jordanien aufgrund der öffentlichen Proteste wackelten.

Und nun stehen auch noch die Langzeitbeschützer des Königreichs, die USA, davor, ihre Truppen aus dem benachbarten Irak abzuziehen, nachdem sie Abdullah bereits hängen ließen, indem sie den arabischen Frühling (widerstrebend) begrüßt hatten. Wer, so fragt sich Abdullah, wird den iranischen Wolf nun von der Tür des Königreichs fernhalten?

Laut eines Sicherheitsabkommens mit der irakischen Regierung werden die USA ihre Truppen bis zum Ende dieses Jahres aus dem Irak abziehen. Gemeinsam mit seinen sunnitisch regierten Nachbarn am Golf ist Saudi-Arabien sehr darauf bedacht, dass einige amerikanische Truppen im Irak bleiben, um einen wieder erstarkenden Iran in Schach zu halten.

Die US-Regierung muss nicht davon überzeugt werden, aber das amerikanische Volk – und die gewöhnlichen Iraker – verlangen, dass die Truppen abziehen. Keine politische Gruppierung im Irak möchte für die Verlängerung der Besatzung verantwortlich gemacht werden, aber die meisten – mit Ausnahme der Bewegung von Muqtada al-Sadr – würden einer Verlängerung der amerikanischen Militärpräsenz um weitere fünf Jahre durchaus zustimmen.

Furcht vor der irakischen Demokratie

US-Soldat auf gepanzertem Fahrzeug an der irakisch-kuwaitischen Grenze; Foto: AP
Rückzug auf Raten: Bis Ende 2011 beabsichtigen die Vereinigten Staaten ihre rund 47.000 im Irak stationierten Soldaten sukzessive abzuziehen.

​​Obwohl sich sowohl die USA als auch die Monarchien am Golf vor dem Iran fürchten, sind momentan viele Fragen im Hinblick auf den Irak und die Region selbst strittig. Saudi-Arabien verabscheut nach wie vor die Vorstellung eines demokratischen Irak unter der Herrschaft der schiitischen Mehrheit.

Das wahhabitische Establishment im Königreich sieht die Schiiten als Abtrünnige und als Bedrohung der Legitimität und Existenz des saudischen Staates. Dies nicht nur wegen der Macht des Irans, sondern auch aufgrund der großen schiitischen Bevölkerungsgruppe im Königreich selbst, die vorwiegend rund um die Ölfelder des Landes beheimatet ist.

Seit dem Sturz Saddam Husseins drängten die USA Saudi-Arabien, im Irak politisch und wirtschaftlich zu investieren. Die saudischen Behörden jedoch behandelten die politische Führung des Irak mit Missbilligung und verschlossen ihre Augen vor den wahhabitischen Fatwas, die wiederum freiwillige Dschihadisten ermunterten, gegen die schiitischen „Abtrünnigen“ zu kämpfen.

Weil man den schiitisch dominierten Irak mied, haben die sunnitisch beherrschten Länder Saudi Arabien, Jordanien und die Golfstaaten praktisch keinen Einfluss in Bagdad und überlassen das Feld damit dem Iran.

Die Ängste Saudi-Arabiens hinsichtlich des Irak liegen in Sicherheitsbedenken begründet. Trotz des blutigen Bürgerkriegs im Anschluss an den Sturz Saddam Husseins, glaubt der Irak immer noch, ein Recht auf die regionale Führerschaft zu haben.

In die politische Isolation

Akteure im politischen Machtpoker mit dem Irak: der Emir Kuwaits, Sabah al-Ahmad al-Jabir (Links), der Emir Qatars, Hamad bin Khalifa al-Thani (Mitte) und der saudische Prinz Sultan Bin Abdul Aziz auf dem vergangenen GCC-Gipfel in Riad; Foto: dpa
Akteure im Machtpoker mit dem Irak: der Emir Kuwaits, Sabah al-Ahmad al-Jabir (links), der Emir Qatars, Hamad bin Khalifa al-Thani (Mitte) und der saudische Prinz Sultan Bin Abdul Aziz auf dem letzten GCC-Gipfel in Riad.

​​Die Monarchen der Region allerdings haben den Irak aus dem Golfkooperationsrat ausgeschlossen. Aus Furcht, dass eine Rolle für den Irak bei der Konzeption der regionalen Sicherheit die politische und militärische Dominanz Saudi-Arabiens unter den Golfstaaten verringern könnte, hat Saudi-Arabien bis heute keine Botschaft in Bagdad eröffnet.

Überdies befürchtet Saudi-Arabien, dass der Irak innerhalb der OPEC seine Ölförderquote wieder erlangt, die das Land aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der unzulänglichen Infrastruktur nicht erfüllen konnte. Die Saudis argwöhnen, dass höhere Ölpreise der Wirtschaft des Irak und des Iran Auftrieb verleihen, wodurch sich deren regionaler Einfluss verstärken würde. Das erklärt auch den Eifer des Königreichs, die Ölförderung anzukurbeln, denn das würde die Ökonomien seiner Konkurrenten schwächen (und dem Westen gefallen).

Die saudischen und sunnitischen Herrscher am Golf möchten, dass die amerikanischen Truppen im Irak bleiben – teilweise, um das Land damit an seinem Aufstieg zu hindern. Tatsächlich weigert sich Kuwait, dem Irak Schulden aus der Ära Saddams zu erlassen und baut überdies bei Mubarak al-Kabir einen Hafen.

Gegen den schiitischen Dämon

Das betrachten die Iraker als unverhohlenen Versuch, den bereits jetzt begrenzten Zugang des Irak zum Persischen Golf noch weiter zu beschränken. Und Bahrain hat auf die irakische Kritik an der politischen Unterdrückung in diesem Land mit der Einstellung der Flugverbindungen der nationalen Fluglinie nach Bagdad, Beirut und Teheran reagiert, die man allesamt als schiitische Dämonen betrachtet.

Mann steht auf Trümmern eines zerstörten Hauses nach einem Terroranschlag in Kirkuk am 15. August 2011; Foto: AP
Im Schatten des dschihadistischen Terrors: Im Irak herrscht die Sorge, dass die einheimischen Sicherheitskräfte nach dem geplanten Abzug der US-Truppen zum Jahresende Terrorangriffen nicht gewachsen sein könnten.

​​Die Mehrheit der Iraker hegt tiefe Ressentiments gegenüber Saudi-Arabien – und das aus gutem Grund: Saudische Dschihadisten standen im Mittelpunkt jener Wirren, die in den Jahren unmittelbar nach der von den USA geführten Invasion von 2003, Hunderttausenden das Leben kosteten. Die Saudis gaben sogar Milliarden Dollars für die Errichtung einer Sicherheitsmauer entlang der unüberschaubaren Grenze zum Irak aus, um die Gewalt, die man dorthin exportiert hatte, einzugrenzen.

Aber der wahre Schutzschild für die Herrscher am Golf ist die Präsenz der amerikanischen Truppen im Irak, weil die engstirnigen Strategen des Königreichs nicht erkannten, dass man durch die Ausgrenzung des Irak in der Zeit nach Saddam dem Iran freie Bahn geben würde. Aber der saudische Traum, die Uhr zurückzudrehen und zu einem von der sunnitischen Minderheit regierten Irak zurückzukehren, machte eine realistische Diplomatie unmöglich.

Trotz dieser Fehlschläge wird der Irak weiterhin von den unter sunnitischer Herrschaft stehenden Staaten der Region gemieden. Durch die Teilnahme an arabischen Gipfeln versuchte der Irak in der arabischen Welt für sich selbst eine politische Rolle zu definieren. Aber als der Irak mit der Ausrichtung des Gipfels an der Reihe war, wurde das Treffen um ein Jahr verschoben. Teilweise aufgrund des arabischen Frühlings, aber auch wegen der Weigerung mancher Golfstaaten, an einer Konferenz in Bagdad teilzunehmen.

Aus saudischem Blickwinkel würde eine Auflösung der militärischen Präsenz der USA im Irak die völlige Überlassung des Landes an den Iran bedeuten. Da könnten die Saudis recht behalten: der Truppenabzug würde einen umfassenden Erfolg für den Iran darstellen, der zwar keine militärische Präsenz im Irak besitzt, aber dennoch der stärkste Akteur in diesem Land ist. Kein anderes mit den USA verbündetes Land, nicht einmal die Türkei, könnte dem iranischen Einfluss im Irak etwas entgegensetzen.

Der militärische Rückzug Amerikas aus dem Irak ist tatsächlich ein Geschenk an den Iran. Das aber nur deshalb, weil sich die Saudis seit 2003 so verhalten haben, als fürchteten sie die irakischen – und ihre eigenen – Schiiten viel mehr, als das Regime des Iran.

Mai Yamani

© Project Syndicate 2011

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Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de