Die Söhne haben das Schweigegebot gebrochen

Der Autor und Filmemacher Michael Roes wollte eigentlich nur einen Film mit gehörlosen Jugendlichen im Jemen drehen. Zensur und Korruption haben dies jedoch verhindert. In seinem Essay schildert er seine persönlichen Eindrücke aus einem zerrissenen Land.

Von Michael Roes

Alles war seit einem Jahr geplant und vorbereitet. Ich brauchte nur noch einen Klassenraum in Aden, um mit den Dreharbeiten beginnen zu können. Die Gehörlosenschule in Khor Maksar und die Eltern der taubstummen Jugendlichen unterstützten mein Vorhaben, Nigel Williams "Klassenfeind" mit einer Gruppe gehörloser Schüler zu verfilmen.

Und bald war auch der geeignete Raum gefunden, ein heruntergekommenes Klassenzimmer, das nur noch als Abstellraum für ausrangierte Schulpulte diente. Wir hätten also gleich loslegen können, wäre da nicht diese Genehmigung gewesen, eine Erlaubnis von der Schulbehörde, denn die Autorität des Schuldirektors reicht in solchen Fragen nicht aus.

Die Mühlen der Bürokratie

Immerhin geht es um einen Film, um etwas also, das womöglich an die Öffentlichkeit gelangt. Und vielleicht nicht jedem gefällt. Also eventuell Schwierigkeiten macht. So dass am Ende nach Verantwortlichen gesucht wird. Die man bestrafen kann. Dabei geht es doch nur um einen nicht mehr genutzten Klassenraum. Oder nicht?

Wir sind immer noch optimistisch, als wir den Schulrat für den Bezirk Khor Maksar aufsuchen. Wir stoßen auf große Sympathie für unser Projekt: Ja, es sei eine wunderbare Idee, einen Film mit diesen armen Gehörlosen zu drehen. Natürlich stehe uns der Klassenraum zur Verfügung. Allerdings würde die Behörde gern zuvor noch einen Blick auf das Drehbuch werfen.

Das ist der Anfang vom Ende des Projekts. Die Übersetzung ins Arabische braucht Tage, und noch länger warten wir auf Antwort. Schließlich werden wir zum Schulamt gebeten. Neben den zensierenden Eingriffen ins Drehbuch sollen wir zwei Mitarbeiter der Behörde hinnehmen, die während der Dreharbeiten anwesend sein müssen, natürlich nur zu unserer Unterstützung und Sicherheit.

Und selbstverständlich gehe man davon aus, dass wir für diesen Zeitraum das Gehalt für unsere "Beschützer" zahlten - von einem Budget, das es in unserer No-Budget-Produktion gar nicht gibt.

Lähmende Korruption

Jugendliche demonstrieren gegen die Regierung unter Präsident Saleh; Foto: AP
Aufstand der Entmündigten und sozial Ausgegrenzten: Die Proteste gegen Jemens Präsident Saleh haben ihre Ursachen in der im ärmsten Land der arabischen Welt vorherrschenden Massenarbeitslosigkeit: Sie liegt bei rund 35 Prozent. Dies hat vor allem die gebildeten jungen Menschen aus den wenigen urbanen Zentren Sada, Sanaa und Taiz revoltieren lassen.

​​Ja, der Jemen ist korrupt wie alle seine Nachbarländer. Und die Korruption lähmt am Ende jede Eigeninitiative und Erneuerung. Immer gibt es jemanden, der sich zuständig glaubt und die Hand aufhält. Und es stimmt, die Jemeniten, zumindest die Mitarbeiter des Staatsapparats, und das ist immerhin fast die Hälfte der Bevölkerung, sind paranoid.

Sie sitzen nicht auf ihrem Posten, weil sie für ihr Amt besonders qualifiziert wären, sondern weil sie Beziehungen hatten oder die Vorgesetzten geschmiert haben. Und sie müssen nun Entscheidungen über Dinge treffen, von denen sie keine Ahnung haben.

Bevor sie die falschen Entscheidungen treffen, entscheiden sie deshalb besser gar nicht. Mögen sie auch sonst nichts gelernt haben, verstehen doch alle die Kunst des freundlichen Hinhaltens. Es sei denn, das Bestechungsgeld ist dem Risiko einer Entscheidung angemessen.

Aber damit enden fürs Erste die Parallelen zu den arabischen Bruderländern. Der Jemen ist anders. Kein Land der arabischen Welt wurde so schnell vom Mittelalter in die Postmoderne katapultiert wie dieser ärmste Staat der arabischen Welt, eigentlich innerhalb nur einer Generation.

Das Smartphone neben dem traditionellen Krummdolch im breiten Ledergürtel ist das augenfälligste Bild für die Gleichzeitigkeit von Wandel und Verharren.

Die gegenwärtigen Proteste im Jemen sind nicht wirklich überraschend. Demonstrationen und Aufstände hat es immer gegeben. Die Presse war immer schon freier, zumindest couragierter als in den Nachbarländern. Und ein stolzer Stammeskrieger lässt sich ohnehin nicht den Mund verbieten.

Aufgezwungene Wiedervereinigung

Die tribalen Strukturen des Landes haben gewiss die Herausbildung eines einheitlichen und funktionierenden Staatswesens verhindert, aber eben auch die vollständige Kontrolle und Unterwerfung seiner Bevölkerung. Tatsächlich endet die Macht des Präsidenten an den Grenzen der Hauptstadt – und im Augenblick reicht sie nicht einmal mehr dorthin. Alle anderen Herrschaftsakte mussten mit den verschiedenen Akteuren ausgehandelt werden. Gewalt mag dafür ein unterstützendes Argument gewesen sein, aber nie das entscheidende.

Antiaufstandseinheiten der Armee in Sanaa; Foto: dpa
Mit Gewalt gegen die Aufständischen: In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa und anderen Städten schossen Sicherheitskräfte wiederholt auf friedliche Demonstranten.

​​Die Demonstrationen in Sanaa, die bisher überraschend friedlich verlaufen für dieses ansonsten eher kriegerische Land, trotzen dem Präsidenten die ersten Konzessionen ab. In Aden bleibt es dagegen merkwürdig ruhig, obgleich vor allem die Südjemeniten die Regierung in Sanaa ablehnen. Auch sie wollen zweifellos ein Ende der Herrschaft von Ali Abdullah Saleh.

Aber für sie stellt der Präsident nur ein Symbol, ein Symptomträger dar. Sie sind gegen die gesamte politische, gesellschaftliche und religiöse Ordnung des Nordens, die dem Süden nach der "Wiedervereinigung" 1989 aufgezwungen wurde. Anfang der neunziger Jahre kam es deswegen zum bewaffneten Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde.

Vor allem Intellektuelle, Frauen und Jugendliche fühlen sich als Opfer dieser als Rückschritt ins Mittelalter empfundenen Einverleibung. Und das nicht zu Unrecht. Die Frauen sind fast vollständig aus allen verantwortlichen Positionen verschwunden. In der Öffentlichkeit zeigen sie sich nur noch verschleiert wie die Frauen in Sanaa. Die Universitäten sind auf das Niveau des Nordens gesunken, und die Ansätze eine Kulturszene sind ins Private und Dilettantische zurückgedrängt.

Für die Stämme an der Grenze zu Saudi-Arabien stellt sich die Situation ebenfalls unübersichtlich und ambivalent dar. Gerade erst haben sie nach mehrjährigen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit Ali Abdullah Saleh einen Waffenstillstand geschlossen, für den der Präsident zweifellos (wenn auch nicht aus seiner Privatschatulle) kräftig zahlen musste. Nun stellen die Ereignisse die mühsam erkämpften Kompromisse schon wieder in Frage.

Anders als in Ägypten oder Tunesien hat der jemenitische Präsident also keinen geschlossenen Block frustrierter Bürger gegen sich. Er selbst ist Mitglied der Haschid, eines der größten und einflussreichsten Stämme des Landes, und kann auf die Solidarität seiner Stammesgenossen vertrauen. Außerdem ist er ein Mann des Militärs.

Er war Armeegouverneur der Provinz Taiz, als er 1978 gegen seinen Vorgänger putschte und sofort alle potentiellen Gegner aus dem Militärapparat eliminierte. Eine der ersten Maßnahmen, die der jemenitische Präsident als Reaktion auf die gegenwärtige Protestbewegung versprach, war neben dem Verzicht auf eine weitere Amtszeit die Erhöhung des Wehrsolds.

Der Aufstand der Söhne im Medienzeitalter

Über die politische Zukunft des Jemen wage ich in diesen Tagen keine Vorhersage, und das nicht nur aufgrund der komplexen Situation, sondern auch, weil in diesem Augenblick etwas vollkommen Neues geschieht, für das es keine Modelle gibt: Es ist der Aufstand der Söhne im Medienzeitalter. Wenn etwas die arabischen Kulturen verbindet, dann ist es die absolute Autorität der Väter über ihre Kinder.

Sary ist nur einer von vielen jemenitischen Freunden, die mir von ihren Problemen mit ihren Vätern erzählt haben. Sie haben niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Selbst dem besten Freund gegenüber verschweigen sie Konflikte in der eigenen Familie.

Jeminitische Frau demonstriert gegen Saleh; Foto: AP
Vor allem Intellektuelle, Frauen und Jugendliche fühlen sich als Opfer dieser als Rückschritt ins Mittelalter empfundenen Wiedervereinigung, die unter Präsident Saleh erfolgte. Und das nicht zu Unrecht. Die Frauen sind fast vollständig aus allen verantwortlichen Positionen verschwunden, schreibt Roes.

​​Das Reden darüber gilt als beschämend – nicht für den gewalttätigen Vater, sondern für den leidenden Sohn. Sary ist neunzehn. Er hätte gern studiert, musste aber im Geschäft des Vaters aushelfen. Er sympathisiert wie viele mit den Demonstranten in Sanaa. In Aden jedoch würde er es niemals wagen, auf die Straße zu gehen. Sein Vater würde ihn dafür wohl totprügeln.

Sary ist ein junger Mann, auf den jeder Vater stolz sein müsste, er ist intelligent, höflich und hilfsbereit. Sarys Vater aber weiß das nicht zu schätzen. An manchen Tagen gibt er den fürsorglichen Familienvater, um dann plötzlich gewalttätig und brutal zu sein. Sary und seine Geschwister tyrannisiert er mit absurden Vorschriften und bestraft sie hart.

Im Jemen darf ein junger Mann nicht einfach so von zu Hause ausziehen. Der Vater hat absolute Macht über seine Kinder, selbst wenn diese erwachsen sind. Körperstrafen werden nicht geahndet, im Gegenteil: Sie werden als notwendig für die Erziehung der Kinder erachtet. Ja, sogar die Kindstötung gilt manchen Korangelehrten als verbrieftes Recht des Vaters.

Die Allmacht der Väter

Wenn wir von "Vätern" im Jemen reden, sind damit nicht nur die Erzeuger gemeint, sondern auch die Stellvertreter-Väter, die Imame, Lehrer, Polizisten und Politiker. Und "Söhne" sind nicht nur die Heranwachsenden, deren Aufbegehren es mit allen Mitteln in Schach zu halten gilt. In der patriarchalisch geprägten Kultur des Jemen bleibt ein Mann auch dann noch Sohn, wenn er selbst längst Vater ist.

Jeder Aufstand gegen den Vater ist mithin ein Aufstand gegen Gott. Im Koran hat Gott die Allmacht des Vaters für alle Ewigkeit festgeschrieben. Sie in Zweifel zu ziehen hieße, Gott selbst in Frage zu stellen.

Dieses System hat jahrhundertelang jede gesellschaftliche und politische Entwicklung verhindert. Was auch immer innerhalb der eigenen Wände geschah, es ging die Außenwelt nichts an. Es war religiös und damit gesellschaftlich legitimiert. In den letzten Jahren ist im Jemen nun etwas geschehen, dessen subversives und revolutionäres Potential kaum jemand wahrgenommen hat. Denn Satellitenschüsseln und schnelle Internetverbindungen haben die Mauern durchlässig gemacht.

Väter können ihre Söhne und Töchter zwar weiterhin einsperren, ihre Kommunikation jedoch nicht mehr lückenlos kontrollieren. Die junge Generation hat Mittel und Wege gefunden, die väterliche Autorität zu unterlaufen und über alle Mauern hinweg miteinander in Verbindung zu treten.

Damit hat die Jugend das zentrale Gebot väterlicher Gewalt gebrochen: das Schweigegebot. Die neuen Kommunikationswege haben nicht nur die Isolation aufgebrochen, in der sich jeder mit seinem ohnmächtigen Hass auf die Autoritäten allein glaubte.

Die neue Vernetzung mit einer anderen Welt hat auch Alternativen gezeigt. Plötzlich sah man ein Leben in Freiheit, von dem man zuvor gezwungen war zu glauben, es gebe so etwas gar nicht.

Alle meine Freunde im Jemen können von väterlicher Gewalt erzählen. Und ihre Geschichten gehen nahtlos über in Berichte über Gewalt in Schulen, Heimen oder Gefängnissen. Die Wut auf die Demütigungen und Verletzungen der Väter sammelt sich nun in einem Medium, wo sie sich verstärkt zu einer lauten Explosion.

Was nach diesem Knall, der weltweit zu hören ist, im Jemen geschehen wird, ist noch vollkommen unklar. Bleibt genug Zeit, die notwendigen Schritte von der internalisierten Angst und Unterwerfung zu einer verantwortungsvollen Selbstbestimmung zu gehen? Selbst unter den schärfsten Oppositionellen im Jemen habe ich niemanden getroffen, der die Autorität der Religion in Zweifel zu ziehen gewagt hätte.

Es scheint vielmehr, als seien im tiefreligiösen Jemen die patriarchalischen Strukturen auf absehbare Zeit nicht von ihrer religiösen Legitimation zu trennen.

Michael Roes

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2011

Den Autor und Filmemacher Michael Roes, Jahrgang 1960, zieht es seit einem einjährigen Forschungsaufenthalt immer wieder in den Jemen, wo er 2000 den Spielfilm "Someone is Sleeping in my Pain" drehte. Auch sein Roman "Rub' al-Khali. Leeres Viertel" spielt dort.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de