Das Ringen um kulturelle Vielfalt in Tower Hamlets

Das Mittelstück des muslimischen Lebens in Tower Hamlets ist die einhundertundeins Jahre alte East London-Moschee; Foto: Wikipedia/ Creative Commons
Das Mittelstück des muslimischen Lebens in Tower Hamlets ist die einhundertundeins Jahre alte East London-Moschee; Foto: Wikipedia/ Creative Commons

Schon seit langem zählt Tower Hamlets mit seinen 70.000 muslimischen Einwohnern zu einem der lebendigsten und multikulturellsten Stadtteile Londons. Doch Kritiker behaupten, dass das Viertel sich auch zu einer Brutstätte des islamischen Extremismus entwickelt habe. Beobachtungen von Joseph Burke

Von Joseph Burke

"Das East End war ein Kaleidoskop von Menschen aus vielen Ländern, vieler Rassen und unterschiedlicher Charaktere." So schrieb es Vera Lynn in einer 1967 erschienenen Geschichte des Londoner Bezirks Tower Hamlets. Dieses "Kaleidoskop" wird nun aber von vielen extrem Rechten eher als ein Geschwür an ihrer Idee von Englishness angesehen.

Am 3. September forderte die "English Defence League" (EDL) diese angebliche "Islamifizierung" nun offen heraus, als sie im multikulturellen Tower Hamlets einen provokativen Protest inszenierte.

Tower Hamlets ist für seine kulturelle Vielfalt berühmt. Französische Hugenotten, Iren und Juden siedelten sich dort im Lauf der Jahrhunderte an. Mit 70.000 lebenden Muslimen besitzt es den höchsten muslimischen Anteil an der Gesamtbevölkerung unter allen englischen Gemeinden (36,4 Prozent). Die meisten von ihnen stammen aus Bangladesch, einige auch aus Somalia.

Herzstück des muslimischen Lebens in Tower Hamlets ist die 101 Jahre alte East London-Moschee, die etwa 5.000 Menschen Raum zum Beten bietet. Für einige aber, darunter den Journalisten Andrew Gilligan, tut sich Tower Hamlets heute vor allem als Hort des islamischen Extremismus hervor.

Zeichen des radikalen Islam im Herzen Londons

Demonstration gegen die EDL; Foto: Joseph Burke
Muslimischer Protest gegen Islamophobie und Rassismus: Demonstration in Tower Hamlets gegen die anti-muslimische Propaganda der "English Defence League" (EDL)

​​"Dies ist einer der wichtigsten Londoner Stadtbezirke – Sitz der traditionellen  und auch der finanziellen Macht. Doch eine neue Macht hält hier Einzug: der organisierte islamische Fundamentalismus", behauptet Gilligan.

Und tatsächlich gibt es konkrete Gründe, um besorgt zu sein. Aushänge sind aufgetaucht, auf denen es heißt: "Scharia-kontrollierte Zone – Keine Musik oder Konzerte, kein Alkohol." In öffentlich finanzierten Bibliotheken sind Texte notorischer islamischer Extremisten wie Abu Hamza al-Masri und Sheikh Abdullah al-Faisal auszuleihen. Lokale Politiker beklagen sich darüber, dass politische Gegner mit muslimischem Hintergrund offen ihre Schwulenfeindlichkeit zur Schau tragen würden. Ob es sich dabei aber um einen wirklich besorgniserregenden Trend handelt, bleibt jedoch unklar. Klar ist, dass dieses Wissensvakuum Spekulationen von Seiten der Medien ins Kraut schießen lässt.

Als 2009 das Zweite Bataillon des Royal Anglian Regiment aus dem Irak nach Luton im Norden Londons heimkehrte, protestierten fünf Mitglieder der islamischen Gruppe Ahle Sunnah al Jamah und trugen dabei Schilder, auf denen "Englische Soldaten, fahrt zur Hölle!" stand.

Anwohner waren empört und der Vorgang bildete den Ausgangspunkt für die Gründung der English Defence League. Der Anführer der Gruppe, Stephen Laxley Lennon, auch bekannt als "Tommy Robinson", ist ein verurteilter Fußball-Hooligan. Die EDL behauptet von sich, nicht rassistisch zu sein, sondern besteht darauf, dass ihre anti-islamische Haltung eine Reaktion auf einen der islamischen Religion eigenen Radikalismus sei.

Dr. Matthew Goodwin, Experte für die extreme Rechte an der Universität von Nottingham, sagt, dass "die EDL gar nicht raffiniert genug ist, um sich hinter dieser Anti-Islam-Haltung zu verstecken. Die Mitglieder der EDL sind aufrichtig islamophob. Und sie machen sich Sorgen um den Einfluss der Muslime auf die britische Gesellschaft."

Präzise Angaben zu Mitgliederzahlen der EDL fehlen bislang. Bei den bisherigen Demonstrationen der Gruppierung konnte man jedoch oft mehr als 3.000 Teilnehmer beobachten.

Lutfur Rahman während der anti-EDL Kundgebung; Foto: Joseph Burke
Ungewöhnliche Verbündete: Die anti-EDL Atkivisten wurden von der `Lesbischen und Schwulen Koalition gegen Rassismus` und der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde unterstützt. Abgebildet: Lutfur Rahman, Bürgermeister von Tower Hamlets bei der Kundgebung für Toleranz

​​Mit ihrer provokativen Demonstration in Tower Hamlets vom 3. September wollte die EDL ihrem Status innerhalb der zersplitterten extremen Rechten Englands gewiss einen Schub verleihen.

Auch Martin Smith, Vorsitzender der Initiative "Unite against Fascism" sieht es so: "Die EDL wollte daraus ein ganz großes Ding machen." Dies war es, was auch viele Einwohner des Stadtteils beunruhigte, wie Mohammed Shaheen, Vater zweier Kinder, der erzählt: "Ich habe meiner Familie gesagt, dass sie den Tag über das Haus nicht verlassen sollte."

Andere zogen eine Parallele zu der "Schlacht in der Cable Street", bei der im Jahr 1936 ein Bündnis von Juden, irischen Dockarbeitern und Kommunisten mit dem vom Spanischen Bürgerkrieg übernommenen Ruf "No pasarán!" (Sie werden nicht durchkommen) Oswald Mosleys British Union of Fascists erfolgreich am Marsch durch das Stadtviertel hinderte.

Viel gepriesene und verteidigte kulturelle Vielfalt

Dem Stadtbezirk fällt so eine besondere Verantwortung zu, meint der Pfarrer Alan Green, Vorsitzender des Tower Hamlets Inter-Faith Forum: "Gemeinden wie Tower Hamlets sind es, die die Pflicht haben, die EDL zu besiegen. Wir stehen für die von ihnen so gehasste Vielfalt und wir dürfen nicht darin nachlassen, diese Vielfalt zu preisen und zu verteidigen."

Dass die Spannungen sich nun verschärfen, liegt im nationalen ebenso wie im internationalen Kontext begründet. Die Unruhen, die sich kürzlich in ganz England ausbreiteten und zu mehr als 2.000 Festnahmen führten, erschütterten die Gesellschaft bis ins Mark.

Die Aussicht, dass EDL-Mitglieder zunehmend versuchen, die Kontrolle über die Straßen zu übernehmen und gewaltsame Auseinandersetzungen mit ihren Gegnern zu suchen, versetzte Regierung und Polizei schließlich in Alarmbereitschaft.

Martin Smith; Foto: Joseph Burke
"Islamophobie scheint der neue Rassismus der Moderne zu sein"- Martin Smith, Vorsitzender der Initiative "Unite against Fascism"

​​Schon zuvor hatten die verheerenden Mordtaten des norwegischen anti-muslimischen Terroristen Anders Breivik Sorgen vor einem neuen Aufwind der extremen Rechten geweckt. Dies erst recht, als bekannt wurde, dass Breivik in seinem Manifest geschrieben hatte: "Ich hatte schon mehr als 600 EDL-Mitglieder als Freunde auf meiner Facebook-Seite und habe mit Dutzenden von ihnen gesprochen, darunter auch mit einigen ihrer Anführer."

Tatsächlich sei er einer der wenigen Aktivisten gewesen, der die Gruppe mit speziellem ideologischen Material versorgt habem, so Breivik.

Eine Koalition für Toleranz

Am Tag der Demonstration selbst errichteten mehr als 3.000 Polizisten eine Sperrzone zwischen den feindlichen Gruppen. Zu den Sprechern auf der Anti-EDL-Kundgebung gehörten unter anderem Vertreter der Lesbian and Gay Coalition against Racism und der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde, die beide ihrer Unterstützung für die von der EDL angegriffenen muslimischen Gemeinde Ausdruck gaben.

Angeführt vom Bürgermeister von Tower Hamlets, Lutfur Rahman, selbst ein Muslim, unternahmen die Demonstranten einen "symbolischen Marsch" entlang der Polizeiabsperrungen. Mit vom Alkohol geröteten Gesichtern und in der Sonne schwitzend, skandierten die EDL-Unterstützer "You're not English anymore" (Ihr seid keine Engländer mehr) zu Melodien, die man vor allem aus Fußballstadien kennt.

Feuerwerksraketen wurden gezündet, vereinzelt kam es zu Rangeleien mit der Polizei. Schließlich aber waren es die Gegner der EDL, die den Sieg davontrugen. Nicht nur konnten sie mit 1.500 Teilnehmern rund 500 mehr als die EDL mobilisieren; auch sollte es den Rassisten der EDL nicht gelingen, die symbolisch wichtige Bezirksgrenze zu Tower Hamlets zu überschreiten. Sie kamen schlicht nicht durch.

Das vergangene Jahrzehnt war ein schwieriges für britische Muslime. Martin Smith glaubt, dass "Islamophobie der neue Rassismus der Moderne zu sein scheint - eine gesellschaftlich akzeptierte Form des Rassismus."

Shaifur Rahman, Geschäftsführer des Islamic Forum of Europe (IFE), eine neben der East London-Moschee ansässige Gemeinde-Organisation, sagt: "In den letzten Jahren mussten wir einiges durchmachen - und es fügt sich in ein viel größeres Bild ein: Nach dem 11. September 2001 durchlebten viele muslimische Organisationen eine harte Zeit, weil gewisse rechtsgerichtete Kommentatoren in den Medien nicht nachließen mit ihren Attacken gegen den Islam, die Muslime sowie muslimische Organisationen."

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Shaifur Rahman; Foto: Joseph Burke
"Stolz darauf, Brite zu sein"- Shaifur Rahman, Geschäftsführer des "Islamic Forum of Europe"

​​So Auch das IFE selbst wurde beschuldigt, Hassprediger in seinen Reihen zu haben, denen es darum ginge, liberale Werte zu untergraben. Angesichts solcher Verbitterung in der englischen Gesellschaft scheint es nun ein Hoffnungssignal für einen möglichen Fortschritt im interreligiösen Dialog zu geben, und das von überraschender Seite.

Ausgerechnet Tarik Jahan, der muslimische Vater einen jungen Mannes, der bei den Unruhen vom August getötet wurde, als er versuchte, seine Nachbarschaft zu beschützen, gibt nun Anlass zu Optimismus, nachdem er eine berührende öffentliche Rede hielt, in der er sagte: "Die Familie hat Beileidsbekundungen und Unterstützung aus allen Teilen der Gemeinde erhalten, von Menschen aller Glaubensrichtungen, aller Hautfarben und Kulturen. Bitte haltet die Erinnerung an meinen Sohn und die Trauer unserer Familie und Freunden in Ehren, indem Ihr nach Hause geht und keinen Ärger macht."

Shaifur Rahman sagt, dass "viele Journalisten schrieben: 'Tarik Jahan hat mich stolz gemacht, Brite zu sein. Dies sind die Werte, mit denen wir uns alle identifizieren und für die wir kämpfen können."

Die bewegende Unterstützungsdemonstration der Bevölkerung von Tower Hamlets gegen die EDL gründete sich auch auf Jahans Entschlossenheit, den zehnten Jahrestag der Anschläge vom 11. September mit einem Gefühl der Hoffnung auf eine bessere Zukunft begehen zu wollen.

Zu Beginn dieses Jahres erklärte Premierminister David Cameron den Multikulturalismus für gescheitert. Und doch ist der Multikulturalismus von Tower Hamlets genauso alt wie die Konservative Partei, deren Vorsitzender Cameron ist.

Die Ereignisse von Tower Hamlets haben jedenfalls deutlich gezeigt, dass eine Mehrheit der Menschen die ungeschminkte Realität einer pluralistischen Gesellschaft dem Schwarz-Weiß-Denken einer rechtspopulistischen English Defence League vorzieht.

Joseph Burke

© Qantara.de 2011

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de