Die verstummten Klänge Bagdads

Das Morgenland-Festival in Osnabrück setzt seit 2005 Standards in der Orient-Musikszene. Dieses Jahr widmete es sich der alten Kulturstadt Bagdad. Marian Brehmer berichtet.

Von Marian Brehmer

Akram lebt in Bagdad. Eingerahmt von dichten schwarzen Locken zeigt sein Gesicht ein breites Lächeln. "I (HEART) CELLO" steht auf seinem weißen T-Shirt. Wie er so auf der Bühne steht, wirkt der 19-Jährige gleich sympathisch. Gerade haben sich die Zuschauer ein Videotagebuch angeschaut, in dem Akram und zwei seiner Freunde ihren ganz normalen Tagesablauf in der irakischen Hauptstadt dokumentieren. Mit einer wackligen Kamera haben sie den Bagdader Alltag zum Morgenland-Festival nach Osnabrück gebracht.

Es ist das namhafteste Event für orientalische Musik in Deutschland und seit einigen Jahren zu einer festen Größe in der Weltmusikszene geworden. Bekannt wurde das Festival vor allem durch ambitionierte Projekte, die nicht selten zuvor Pionierarbeit nötig machten: 2008 reiste das Osnabrücker Symphonieorchester nach Teheran und führte dort die Johannes-Passion von Bach auf – das erste derartige Projekt mit einem deutschen Orchester. 2010 organisierte das Morgenland-Festival Konzerte im Opernhaus Damaskus und in Jordanien.

Der Erschaffer und Organisator des Festivals, Michael Dreyer, stellt an diesem Nachmittag Akram und seinen Freund Washaq den Zuschauern vor. "Das ist eine der wichtigsten Veranstaltungen auf diesem Festival", sagt Dreyer. "Ich habe diese Jungs wirklich lieb gewonnen."

Chorkonzerte in Kurdistan

Bagdad ist in diesem Jahr musikalischer Schwerpunkt des Morgenland-Festivals, denn die Stadt ist 2013 auch die Kulturhauptstadt der arabischen Welt. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Bagdad konnten die Musiker des Festivals im August nicht nach Bagdad reisen, sondern fuhren stattdessen nach Erbil im kurdischen Nordirak. Der Osnabrücker Jugendchor arbeitete dort bei einem Workshop mit irakischen Künstlern zusammen. Es gab mehrere Konzerte und Jam-Sessions, zu denen insgesamt über 3.000 Besucher kamen.

Auch die sieben Konzerte in Osnabrück sind gut besucht. An diesem Nachmittag stellen Akram und Washiq das "National Youth Orchestra of Iraq" vor, das seit fünf Jahren jungen Irakern einen Zugang zu klassischer Musik ermöglicht. Das Orchester ist in der von Gewalt geprägten irakischen Hauptstadt eine Erfolgsstory: Seit seiner Gründung durch die 17-jährige Pianistin Zuhal Sultan ist das Orchester stetig gewachsen und hatte mittlerweile schon Auftritte auf dem Beethoven-Fest in Bonn. Die Musiker sind sowohl kurdischer, als auch arabischer Herkunft.

Das Videotagebuch zeigt Akram, den Orchestermusiker, wie er in seinem Bagdader Haus Cello übt. Sein Vater ist Oud-Spieler, doch die heimische Musik berührte Akram nicht. Als er jedoch vor ein paar Jahren eine Aufnahme klassisch-westlicher Musik hörte, entdeckte er ein Instrument, das ihm gefiel. "Das will ich spielen!", rief er seinem Vater zu. Es war das Cello.

Doch Akrams Vater winkte ab. Das Cello sei schwer zu erlernen und es gebe doch im Irak keine Lehrer dafür. Doch Akram ließ nicht locker und fand bald am "Institute of Fine Arts" in Bagdad einen Cello-Lehrer.

Durch das "National Youth Orchestra" bekam Akram die Chance, im Norden des Landes Meisterklassen zu besuchen. Doch der Mangel an kompetenten Lehrern im Irak ist ein großes Problem. "Viele Faktoren stellen sich diesen jungen Menschen entgegen", sagt Paul MacAlindin, der Dirigent des Orchesters. Damit meint der gebürtige Schotte nicht nur die unvorhersehbare Sicherheitslage in Bagdad, die das Proben zu einer ständigen Herausforderung macht.

Angst vor der Cellokoffer-Bombe

Akram berichtet auch vom Misstrauen vieler Menschen, die angesichts ihrer prekären Lebenssituation in der Musik einen Luxus sehen. Es sei schwierig, in Bagdad mit dem Cellokoffer auf die Straße zu treten, denn viele glaubten, im Koffer befände sich eine Bombe. "Andere sagen schlicht, diese Art von Musik sei 'haram'."

Doch Akram will seinen Traum von der Cello-Karriere nicht aufgeben. Er hofft auf eine Ausbildung an einer europäischen Musikhochschule. Auch wenn es mit der Aufnahme schwierig werden könnte. Zwar beherrscht er sein Instrument und hat schon Auszeichnungen für sein Spiel bekommen, doch einen Abschluss nach europäischen Standards besitzt er bislang noch nicht.

Die Erweckung der irakischen Gesangstradition zu neuem Leben: Bassem Hawar (l.) und Saad Thamir vom "Duo Sidare" auf dem Morgenland-Festival in Osnabrück

Am Abend tritt das "Duo Sidare" auf, das sich der traditionellen irakischen Musik, dem Maqam, verschrieben hat. "Maqam" bezeichnet in Bagdad sowohl das typisch arabische Tonsystem wie auch eine eigene Gesangsform. Bassem Hawar und Saad Thamir haben in Bagdad die Musikhochschule absolviert und leben seit 2000 in Deutschland. "Sidare" ist der Name der Kappe, die nur von Maqam-Künstlern in Bagdad getragen wird.

Bassem Hawar spielt die Djoze, eine irakische Spießgeige, und Saad Thamir trommelt abwechselnd auf Daf und Darbuka. In ihrem Repertoire erwecken "Duo Sidare" die volle Breite der irakischen Gesangstradition zum Leben. Neben Maqams singen Hawar und Thamir auch die "Peste", leichte Strophenlieder, die in den Zwischenpausen einer abendfüllenden Rezitation vorgetragen werden.

Die Klagelieder der Männer

Sogar an die Klageweisen der Frauen, Teil einer verborgenen Musikkultur, wagen sich die Musiker. "Eigentlich ist es peinlich, so etwas als Mann zu singen. Aber wir Iraker kennen diese Leider aus unserer Kindheit. Und eigentlich sind sie toll!", schmunzelt Saad Thamir. Vor jedem Stück gibt er dem Publikum Erklärungen und wirft kleine Anekdoten aus seiner Heimat ein. Es gibt Geschichten von liebeskranken Dichtern, von besorgten Müttern und von Onkeln.

Bei ihrem Spiel ist Hawar und Thamir anzumerken, dass sie bereits seit 22 Jahren zusammen musizieren: Die Abstimmung ist fließend und gute Schwingungen übertragen sich bald von den Musikern auf das Publikum. Die Djoze, reich an Obertönen, klingt mal kraftlos und melancholisch, mal forsch und entschlossen – stets unterstützt von der Perkussion.

Das "Duo Sidare" präsentiert mit ihrem Spiel eine Kunstmusik, die in ihrem Kern vital und ausdrucksstark ist. Es zeugt von einer lebendigen und kulturliebenden Stadt, die Bagdad einmal gewesen sein muss.

Und so ließ Michael Dreyer dann bei der Eröffnung des Festivals auch eine leise Hoffnung anklingen: Bagdad, einst Wiege des orientalischen Kulturraums, möge bald wieder zum Kulturzentrum der islamischen Welt aufsteigen. Doch derzeit treten in der niedersächsischen Provinz beim Morgenland-Festival wohl mehr irakische Musiker gleichzeitig auf als momentan irgendwo in Bagdad.

Marian Brehmer

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de