Sehnsuchtsort Europa: Nahost-Krisen treiben Menschen zur Flucht

Libanon, Syrien, Irak: Viele Menschen sehen wegen der verheerenden wirtschaftlichen und politischen Lage in ihren Heimatländern keine Perspektive. Und machen sich deshalb auf eine gefährliche Reise. Von Jan Kuhlmann und Mirjam Schmitt, dpa



Beirut/Istanbul. Es wäre an diesem Freitagabend der übliche Betrieb am Flughafen von Beirut, gäbe es nicht dieses besondere Phänomen: Auffallend viele junge Männer bleiben vor der Anzeigetafel in der Abflughalle stehen. Sie reisen allein oder mit Freunden. Sie haben nur einen Rucksack oder anderes kleines Gepäck dabei. Und sie suchen nach dem Check-in für Flug B2782 um 1830 Uhr. Ziel der Boeing 737 der Airline Belavia: die belarussische Hauptstadt Minsk.



Reden will niemand von ihnen, und wenn, dann nur knappe Worte. Einer sagt, er suche nach Arbeit. Ein anderer will Tourist sein. Die meisten von ihnen haben Pässe des Nachbarlandes Syrien, und es dürfte kaum ein Zweifel bestehen, dass die Reise von Minsk aus in Richtung polnische Grenze führen soll, um in die Europäische Union zu kommen.



Eine gefährliche und beschwerliche Reise mit ungewissem Ausgang. Bei einigen sieht es nach einem organisierten Unterfangen aus. Eine Gruppe junger Männer mit syrischen Pässen steigt aus einem Kleinbus. Ein etwas Älterer gibt ihnen noch Anweisungen. Das Wichtigste seien die Pässe, mahnt er. Und sie dürften höchstens sieben Kilo Handgepäck dabeihaben. Dann verschwinden sie Richtung Check-in.



So, wie offensichtlich diese Passagiere, machen sich seit Wochen Tausende Menschen aus arabischen Ländern auf den Weg, um über Belarus in die EU zu gelangen, insbesondere nach Deutschland. Libanesen und viele Syrer sind darunter. Aber auch sehr viele Kurden aus dem Nordirak. Sie alle brechen in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf. Ihre Heimatländer stecken schon seit Jahren in Krisen, die kein Ende nehmen wollen, sondern sich verschärfen, zuletzt durch Corona.



Die Lage im Libanon etwa wird von Tag zu Tag verheerender. Nach zwei Jahren Wirtschaftskrise, Corona-Pandemie und der gewaltigen Explosion im Hafen von Beirut leben drei Viertel der Bevölkerung in Armut. Vor allem die rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge, aber auch immer mehr Libanesen müssen täglich um das Überleben kämpfen. Während sich die korrupte Elite in Machtkämpfen verstrickt, anstatt sich um dringend notwendige Reformen zu kümmern. Der Libanon sei auf dem Weg zum gescheiterten Staat, warnte ein UN-Experte am Freitag. Und Libanesen versuchen in Scharen, das Land zu verlassen.



Das Nachbarland Syrien kennt Massenflucht schon seit Jahren. Zwar hat sich der militärische Konflikt nach mehr als zehn Jahren Bürgerkrieg etwas beruhigt, doch ein Ende zeichnet sich nirgends ab. Stattdessen könnten jederzeit neue Kämpfe ausbrechen. Wie im Libanon stürzt eine Wirtschaftskrise immer mehr Menschen in Armut. Eine Hungerkrise erfasste das Land, in diesem Jahr verschärft durch eine monatelange Dürre. Viele Gebiete sind stark zerstört. Doch der Regierung von Machthaber Baschar al-Assad fehlt das Geld für einen Wiederaufbau.



In den politisch vergleichsweise stabilen Kurdengebieten im Irak klagen vor allem junge Menschen, dass sie keine Arbeit finden. Die Region leidet noch immer unter den Folgen des Kampfes gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die bis nahe an die Regionalhauptstadt Erbil vorrückte und noch immer im Irak aktiv ist.



Die kurdische Nachrichtenseite Rudaw berichtete, viele Flüchtlinge stammten aus der Region an der Grenze zur Türkei, wo sich die türkische Armee und die kurdische Arbeiterpartei PKK bekämpfen. Unter den Flüchtlingen sind auch Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden, die vom IS verfolgt, verschleppt, misshandelt und getötet wurden. Viele von ihnen fühlen sich noch immer diskriminiert.



Die Menschen sind längst Teil eines internationalen Spiels geworden, an dem sich mehrere Länder beteiligen. Der Irak stoppte im August alle direkten Flüge nach Belarus, um die Zahl der Migranten zu begrenzen. Doch die kommen über andere Flughäfen nach Minsk.



Ein Kurde Anfang 30 erzählt, er habe mit einer Schleusergruppe vereinbart, dass sie ihn über die Türkei und Belarus nach Deutschland bringe. 10 000 US-Dollar muss er dafür bezahlen. «Ich habe viele geflohene Verwandte, die in Deutschland in Frieden und Sicherheit leben», sagt er. «Wenn ich es dorthin schaffe, erfüllt sich mein Traum.» Die Reise solle starten, sobald er ein Türkei-Visum habe.



Am Flughafen in Istanbul waren in den vergangenen Tagen ähnliche Szenen wie in Beirut zu beobachten: Etwas abseits vom Check-in-Schalter nach Minsk steht am Donnerstag eine Gruppe junger Männer mit vollgepackten Rucksäcken. Sie sprechen Kurdisch, zwei Begleiter händigen ihnen Dokumente aus. Migranten mit dem Ziel Europa? Sie wollen nicht reden und gehen eilig weiter.



Der Syrer Muhammad spricht dagegen freimütig über seine Pläne: Er wolle von Istanbul nach Minsk, dann weiter Richtung Polen und Deutschland. Schon vor zwei Monaten habe er es versucht, sei aber wegen Problemen mit dem Visum gescheitert, erzählt der 22-Jährige. Damals habe eine «Vermittlerfirma» die Reise organisiert. Für 3200 Dollar das komplette Paket: Flugticket, Visum und vier bis fünf Tage Hotel in Minsk. Bis zur Grenze wollte er sich alleine durchschlagen. Allerdings will er jetzt seine Pläne ändern und es über Syrien versuchen: Denn die Türkei lässt seit Freitag nach internationalem Druck Staatsbürger mehrerer arabischer Länder nicht mehr nach Belarus fliegen. Aber auch die syrische Airline Cham Wings kündigte an, die Flüge in die belarussische Hauptstadt einzustellen. Auch Dubai dient als Zwischenstopp. Oder aus Beirut heben Flieger ab.



Die belarussische Airline Belavia etwa fliegt dienstags und freitags von dort nach Minsk. Tickets würden für 1200 US-Dollar über eine lokale Partneragentur der Fluggesellschaft verkauft, sagt ein Mitarbeiter eines Beiruter Reisebüros. Visaanträge bearbeite die belarussische Botschaft in Syriens Hauptstadt Damaskus. Schließlich ist die dortige Führung mit Belarus und Russland verbündet.



Der Flug von Beirut an diesem Freitagabend sei ausgebucht, heißt es bei der Belavia-Partneragentur in der Stadt. Rund 190 Passagiere passen an Bord der Boeing 737. Für sie beginnt die Reise Richtung Belarus an diesem Abend jedoch mit einer schlechten Nachricht: Auf der Anzeigetafel heißt es, der Flug habe vier Stunden Verspätung. (dpa)