“Such es in dir selbst” 

Tayfun Guttstadts neues Album “Tarapzâde” ist eine kulturelle Selbsterforschung zwischen scheinbar gegensätzlichen Musikwelten. Marian Brehmer hat sich die Platte angehört.

Von Marian Brehmer

Zum elektronischen Rhythmus gesellt sich bald eine melancholisch seufzende Ney. Nach ein paar Takten treiben HipHop-Beats die Musik an. Schließlich rundet eine Kanun, die türkische Kastenzither, das Klangwerk ab. All diese Elemente, die normalerweise nie zueinander finden würden — schon gar nicht in einem Volkslied aus der spirituellen Tradition Anatoliens — vermischen sich im sechsten Track von Tayfun Guttstadts Album “Tarapzâde” zu einem faszinierenden Hörerlebnis. 

Das Stück “Cevrimiz” ist charakteristisch für den kulturellen Spagat, der das ganze Album durchzieht. Das zugrundeliegende Gedicht “Hab ich es dir nicht gesagt?” stammt aus der Feder von Pir Sultan Abdal, einem Barden der Alevi-Bektaschi-Tradition aus dem 16. Jahrhundert, und warnt vor Mühsal und Prüfungen des Derwisch-Pfads. Neben türkischen Sufi-Versen enthält Guttstadts fusionsfreudiges Album auch Liebeslieder sowie Gedichte aus eigener Feder. 

Guttstadt ist Multi-Instrumentalist, er spielt unter anderem Ney und Gitarre. So haben die Instrumente auf der Platte mal einen dezidiert türkischen Charakter, mal tauchen auch arabische oder persische Anklänge auf. “Tarapzâde” ist die erste Platte des 35-jährigen Musikers und Autors — das Ergebnis einer dreijährigen kreativen Reise, aber auch eines Lebens zwischen den Welten. 

 

 

Guttstadt wurde als Kind einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Hamburg geboren und lebt heute in Berlin. Sein mittlerweile verstorbener Vater stammte aus der Region Konya und war ein Hafiz, hatte also den Koran auswendig gelernt. Später wurde er Lehrer und Sozialist, musste wegen Verfolgung das Land verlassen und gab in Hannover seine eigene Exilzeitung heraus.  

Zwischen den Stühlen 

“Das Album soll zeigen, was meine kulturelle Identität ist”, sagt Guttstadt. “Ich merke, wie ich an vielen Orten anecke, weil ich mich entweder zu sehr mit Tradition und der osmanischen Kultur beschäftige, was manche nicht verstehen. Diejenigen, die religiös geprägt sind, können wiederum nicht nachvollziehen, dass ich HipHop höre. Da stehe ich oft zwischen den Stühlen.” 

Doch auf dem Album scheint sich dieser Widerspruch aufzulösen. Tradition und Moderne verschmelzen in Guttstadts Musik zu einem selbstbewussten Ganzen: “Ich empfinde da keine Spannung, alles harmoniert wunderbar. Mit 'Tarapzâde’ wollte ich sagen: Das bin ich, kommt damit klar.” 

Der Track “Hararet” etwa kommt ganz und gar als HipHop-Stück rüber, ist jedoch unterlegt mit einem gehauchten zikr der Silbe “Hay”, welche die Sufis bei ihren Ritualen wiederholen. Al-Hay ist einer der neunundneunzig Namen Allahs, der sich mit “der Lebendige” oder “der Leben spendende” übersetzen lässt. Der Text zum Lied stammt aus einem Gedicht des anatolischen Volksheiligen Hacı Bektaş Veli, dessen Grabmal in Zentralanatolien eines der wichtigsten Pilgerzentren der Türkei ist.

Der Musiker Tayfun Guttstadt mit einer Ney; Foto: Anton Tal
Wanderung zwischen den Welten: Der Berliner Musiker Tayfun Guttstadt bringt in seinem neuen Album “Tarapzâde” traditionelle türkische Musik mit modernen HipHop-Elementen zusammen. “Das Album soll zeigen, was meine kulturelle Identität ist”, sagt Guttstadt. “Ich merke, wie ich an vielen Orten anecke, weil ich mich entweder zu sehr mit Tradition und der osmanischen Kultur beschäftige, was manche nicht verstehen. Diejenigen, die religiös geprägt sind, können wiederum nicht nachvollziehen, dass ich HipHop höre. Da stehe ich oft zwischen den Stühlen.”   



“Was auch immer du suchst, such es in dir selbst”, heißt es in dem Liedtext von Hacı Bektaş. “Du findest es nicht in Jerusalem, Mekka und auf der Hadsch.” Das Sufi-Prinzip der Selbstsuche scheint zu Guttstadts Anliegen der kulturellen Selbsterforschung zu passen, das er mit seinem Album verfolgt.

Die Menschen immer wieder in ihr Inneres zurückzuführen und ihnen den Sinn des Lebens zu erklären, damit sie nicht mechanisch an den überlieferten Formen und Regeln der Religion hängen bleiben, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Versen der Weisen und Heiligen Anatoliens. Viele in der heutigen Türkei haben zu diesem mystischen Erbe kaum noch Zugang. In Europa hingegen ist diese Seite der türkischen Kultur nur wenig bekannt. 

Schatz der spirituellen Dichtung 

“Ich wollte zeigen, wie schön die Tradition der spirituellen Dichtung ist und welch großen Schatz sie darstellt”, sagt Guttstadt. Mit “Tarapzâde” taucht er in die geistigen Wurzeln der anatolischen Tradition ein, die letztlich eine universelle Botschaft besitzt. “Ich glaube, dass dort viel zu finden ist, was nicht nur jenen gehört, die sich als sich als muslimisch-türkisch verstehen. Es ist ein Kulturerbe, das man leben lassen sollte.” 

Auch in Guttstadts eigenen Versen sind Anlehnungen an die Sufi-Dichtung erkennbar, jedoch vermischt mit neuen Elementen. Dies findet zum Beispiel im Lied “Şekilsiz Ayna” (Formloser Spiegel) Ausdruck: “Wir sind die Nachtigallen eines Zeitalters, das noch nicht gekommen ist / Wir sind der durchsichtige Umschlag eines Briefes, der noch nicht gelesen wurde / der Spalt des Fensters, durch den das Licht nicht eindringt / Wir, die durch Zählen nicht erkennbar sind, sind der Spiegel des Formlosen.” 

Marian Brehmer

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