Brücke über Zeiten und Kulturen

Das internationale Berliner Kammermusik-Ensemble Musica Sequenza ist bekannt für seine moderne Interpretation von Barockmusik. Mit seinem jüngsten Projekt, der Oper Kassia, überwindet Burak Özdemir, Komponist und Leiter des Ensembles, zeitliche, kulturelle und geografische Grenzen. Von Ceyda Nurtsch

Von Ceyda Nurtsch

Beim Berliner Kammermusik-Ensemble Musica Sequenza geht es um die ganz großen Themen. Um Zeit und unsere Wahrnehmung von ihr. Um Kontrolle und Kontrollverlust. Um Liebe und Schmerz. Um Freiheit, Spiritualität, die Vereinigung des Menschen mit dem großen Ganzen und nicht zuletzt um die Universalität von Musik. Der Istanbuler Fagottist Burak Özdemir gründete Musica Sequenza 2008 an der Juilliard School in New York. Seit 2011 ist das Ensemble in Berlin und erkundet ständig neue Wege, um Barockmusik in neue Gewänder zu kleiden, etwa durch die Fusion mit Elektrosounds, und sie in angesagte Locations zu bringen, wie den Berliner Kit Kat Club.  

Mit seinem jüngsten Projekt Kassia kehrt Fagottist, Ensemble-Leiter und Musikproduzent Burak Özdemir zurück zu seinen Wurzeln. Bereits bei Rameau à la Turque fusionierte er Klänge des französischen Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau mit osmanischer Serail-Musik und schaffte so einen modernen Barock-Groove. In seiner ersten Oper greift Özdemir nun die Geschichte der byzantinischen Äbtissin, Komponistin und Dichterin Kassia aus dem 9. Jahrhundert auf.



Bislang galten die Werke von Hildegard von Bingen aus dem 11. Jahrhundert als die frühesten überlieferten Kompositionen einer Frau in Europa. Doch auch wenn die Kompositionen von Kassia weitaus weniger bekannt sind, ist sie wohl die früheste Komponistin des Abendlandes, die als Äbtissin in Konstantinopel geistliche sowie weltliche Schriften verfasste und der heute knapp 50 Hymnen zugeschrieben werden. 

Kassia: eine Feministin aus Konstantinopel  

"Kassia gilt als eine der ersten feministischen Figuren in der Geschichte Europas“, erklärt Özdemir. Die Frau aus einem vornehmen Elternhaus lehnte einen Heiratsantrag von Kaiser Theophilos schlagfertig ab und gründete, weit ab der High Society, zu der sie gehörte, und fernab vom Volk, ein Frauenkloster. Hier schuf sie bedeutende Kompositionen, die eine große Rolle in der Musikgeschichte, besonders in der Entwicklung der europäischen Kirchenmusik spielen.



Diese Kompositionen greift Özdemir mit seinem Ensemble auf, das auf Originalinstrumenten aus dem 9. Jahrhundert wie der byzantinischen Geige Kamantsche spielt. Er arrangiert sie neu und webt sie ein in seine eigenen Elektrokompositionen. Gemeinsam mit Solosopran und dem Bochumer Theater kaincollectiv entsteht durch das Zusammenspiel von Musik, Tanz und Sounddesign ein Portrait der Komponistin und Dichterin Kassia. 

Der Komponist und Fagottist Burak Özdemir; Foto: Musica Sequenza credit Daniel Mulder
Der international gefeierte türkische Fagottist, Dirigent und Komponist Burak Özdemir verbindet immer wieder westliche und östliche Klänge zu neuen, dynamischen Musikstücken. Özdemir studierte an der Juilliard School in New York, an der Hochschule der Künste in Berlin und am Konservatorium in Istanbul. 2008 gründete er das Ensemble Musica Sequenza, das ein eigenes Genre schuf, den Elektro-Barock, und immer wieder Produktionen mit interkulturellen Impulsen aufführte. Sein neuestes Werk ist die Oper Kassia, in der er alte Gesänge neu komponiert und zeitliche, kulturelle und geografische Grenzen überwindet.

Keine Lehren aus der Geschichte

Bei diesem Projekt arbeitet Özdemir mit dem Frauenmuseum in Istanbul zusammen, das unter dem Titel "Kassia“ eine Konferenzreihe mit Künstlerinnen, Aktivisten und Wissenschaftlerinnen organisiert. "Wir können aus der Geschichte viel lernen“, sagt der Musiker, der bereits mit Künstlern wie Startenor Rolando Villazón und der belgischen Sängerin Natasha Atlas zusammengearbeitet hat. "Bis heute wird es Frauen vielerorts verwehrt, ihr Schicksal selbst zu wählen. Nicht nur in der Türkei, sondern weltweit. Betrachten wir die Geschichte, müssen wir feststellen, dass wir in manchen Punkten noch genau dort sind, wo wir vor 1200 Jahren waren.“ 

Die Oper ist das erste Stück, mit dem das Ensemble seit dem Beginn der Pandemie wieder auf Tournee geht. "Diese Zeit war auch für uns eine Herausforderung“, so Özdemir. "Wir haben versucht, uns nicht unterkriegen zu lassen. Es war, als müssten wir uns mit einem Mal mit Macheten unseren Weg durch den Amazonas schlagen, während wir vorher mit dem Luxusauto auf der Autobahn gefahren sind.“ Das Ensemble gab in dieser Zeit Streaming-Konzerte, versuchte die technischen Möglichkeiten auszureizen, produzierte Youtube-Videos, kreierte Lockdown-Installationen und arbeitete enger mit Museen wie dem Museum of Modern Art in New York zusammen. "The Show must go on.“ Vier Alben bringt das Kammermusik-Ensemble in dieser Zeit heraus. 

Händel: Trost in herausfordernden Zeiten  

Neben dem geistlich-meditativen Album Bach. Opium – das zweite Bach-Album des Ensembles – entsteht in dieser Zeit Morphine. Händel. "Händels Arien sind für mich die zeitlosesten Lieder der europäischen Musikkultur. Sie sprechen auch drei Jahrhunderte nach ihrer Entstehung unsere Gefühle an“, sagt Özdemir. Das Album, eine Zusammenstellung von Händels Arien und Eigenkompositionen, sagt er, solle den Menschen in diesen herausfordernden Zeiten Trost spenden.  

Dann entsteht Inferno, eine Hommage an den italienischen Dichter und Philosophen Dante Alighieri und zuletzt, im April 2022, das Album Monteverdi Vertigo. "In dem Album verschmelzen Musikstile ineinander, die Zeit verändert sich, die Musik verläuft vorwärts und gleichzeitig rückwärts. Die Zuhörer haben das Gefühl, das sich der Boden hebt und die Zeit elastisch ist.“ Das Album sei eine Auseinandersetzung mit dem täglichen, überkontrollierten Leben, in dem wir unsere spirituellen Qualitäten ignorieren, so der Musiker. "Hier geht es darum, einfach nur zu sein. Die Essenz des Lebens.“ 

Özdemir ist ein Künstler, der es vermag, die Grundstimmung einer Ära sinnlich und philosophisch zugleich zu erfassen und sie in eine Musik umzusetzen, die eine Brücke durch die Zeit spannt. Die Pandemie und der derzeitige Krieg in der Ukraine, sagt er, hätten uns vor allem noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie vergänglich wir sind und wie wertvoll die Zeit ist, die uns zur Verfügung steht.

"Alles, was wir in dieser Zeit machen können, ist ein Geschenk. Wir wissen nicht was morgen ist. Vor der Pandemie haben wir uns verhalten, als hätten wir Abertausende von Jahren zur Verfügung. Wir haben uns an Details aufgehängt und alles kritisiert.“ Jetzt, sagt er, würden wir wieder lernen, mit den kleinen Dingen im Leben glücklich zu sein. "Davor waren wir in einem konstanten Drive. Jetzt spielen Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein eine viel größere Rolle.“ Auch für zukünftige Projekte denkt Özdemir groß. Mit seinem Ensemble wird er wieder musikalische und kulturelle Grenzen sprengen. Und damit zeigen, dass im Kern alles verbunden ist. 

Ceyda Nurtsch

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