Eine wunderbare Reise

In ihrem neuen Album interpretieren die in Amsterdam lebenden Musiker der anatolischen Rockband Altin Gun zehn türkische Volkslieder neu für das 21. Jahrhundert. Richard Marcus ist vom Ergebnis beeindruckt.
In ihrem neuen Album interpretieren die in Amsterdam lebenden Musiker der anatolischen Rockband Altin Gun zehn türkische Volkslieder neu für das 21. Jahrhundert. Richard Marcus ist vom Ergebnis beeindruckt.

In ihrem neuen Album interpretieren die in Amsterdam lebenden Musiker der anatolischen Rockband Altin Gun zehn türkische Volkslieder neu für das 21. Jahrhundert. Richard Marcus ist vom Ergebnis beeindruckt.

Von Richard Marcus

Je häufiger man türkische Popmusik hört, desto mehr erkennt man die vielfältigen Einflüsse, die auf jede Aufnahme einwirken. Auch wenn zwischen manchen Künstlern und Bands Ähnlichkeiten bestehen, drücken sie der Musik ihren jeweils eigenen Klang und ihren besonderen musikalischen Stempel auf. 

Auf dem neuen Album von Altin Gun, "Aṣk“ (wörtlich: "Tief empfundene Liebe“), nutzen die Musiker ihre Liebe zu moderner psychedelischer Musik – wirbelnde Gitarren und Keyboards –, um einzigartige Versionen von zehn traditionellen türkischen Volksliedern zu kreieren. 

Vielleicht hat ihnen die Tatsache, dass sie in Amsterdam leben, den nötigen Abstand verschafft, um diese Musik unvoreingenommen zu betrachten, frei von allen Vorstellungen, wie die Lieder klingen sollen. Möglicherweise sind sie einfach experimentierfreudig. Was auch immer der Grund ist, die Ergebnisse sind eindrucksvoll. Mit ihren traditionellen und modernen Instrumenten haben sie die musikalischen Vorlagen auf fantastische Weise intensiv erkundet.

Cover von Altin Guns Album "Aṣk" (erschienen bei glitterbeat.com)
„Tief empfundene Liebe“: Die bisherigen Alben von Altin Gun sind eine exzentrische Mischung von psychedelischem Folk bis hin zu den letzten beiden Veröffentlichungen, die fast ausschließlich elektronische Tanzmusik enthalten. In „Așk“ wirken beide Stile glücklich vereint, denn die Band nutzt alles, was ihr zur Verfügung steht, um ein rauschhaftes Klangerlebnis zu schaffen, das die Hörer auf eine fremde und wunderbare Reise mitnimmt. 

Ein Mix von Stilrichtungen 

Die bisherigen Alben von Altin Gun sind eine exzentrische Mischung von psychedelischem Folk bis hin zu den letzten beiden Veröffentlichungen, die fast ausschließlich elektronische Tanzmusik enthalten. 

In "Așk“ wirken beide Stile glücklich vereint, denn die Band nutzt alles, was ihr zur Verfügung steht, um ein rauschhaftes Klangerlebnis zu schaffen, das die Hörer auf eine fremde und wunderbare Reise mitnimmt. 

Die fünf Mitglieder der Band – Chris Bruining (Schlagzeug), Daniel Smienk (Schlagzeug), Erdinc Ecevit (Gesang, Baglama, Synthesizer), Jasper Verhulsts (Bass, Synthesizer), Merve Dasdemir (Gesang, Synthesizer) und Thijs Elzinga (Gitarre, Pedal-Steel-Gitarre) – spielen in perfekter Harmonie zusammen und schaffen so eine makellos wunderbare Musik. 

Ob bei den wirbelnden elektronischen Dancefloor-Sounds des Eröffnungsstücks "Badi Sabah Olmadan“ oder der nachdenklicheren Melodie von "Guzelligin On Para Etmez“ – immer spielt die Band kraftvoll und auf höchstem handwerklichen Niveau. 

Weil sie die Texte auf Türkisch singen, werden die meisten Hörer eher aus dem Klang der Gesangsstimmen als aus den Worten auf die ausgedrückten Gefühle schließen können. Auch die instrumentalen Teile der Songs tragen diese Last. Zum Glück haben sowohl Dasdemir als auch Ecevit eine unglaubliche emotionale Bandbreite und die Musiker sind ausnahmslos äußerst talentiert. 

In der türkischen Kultur verwurzelt 

Es macht dieses Album so faszinierend, dass die Songs trotz der modern klingenden Musik tief in der türkischen Kultur verwurzelt sind. Bei drei Titeln sind die Urheber der Songtexte bekannt: 2Leylim Ley“ (Text: Sabahattin Ali, Musik: Zulfu Livaneli), "Guzelligin On Para Etmez“ (Asik Veysel) und "Doktor Civanim“ (Ahmet Gazi Ayhan). Wer die übrigen Songtexte gedichtet hat, verliert sich leider im Dunkel der Geschichte. 



Von den Textern ist Livaneli der einzige noch lebende und wohl auch der Bekannteste. Er ist nicht nur ein ausgezeichneter Schriftsteller und Komponist, sondern engagiert sich auch politisch und kulturell. In den frühen 1970er Jahren zwang ihn die türkische Militärherrschaft ins Exil, zu Beginn des 21. Jahrhunderts saß er im Parlament. Heute ist er wahrscheinlich einer der meistverkauften Autoren des Landes, seine Bücher haben sich in den letzten vier Jahren über sieben Millionen Mal verkauft. Veysel und Ayhan sind dagegen nicht mehr unter den Lebenden. Von Letzteren scheint es keine englischen Übersetzungen zu geben (jedoch viel in türkischer Sprache), wie eine kurze Google-Recherche ergab. 

Sabahattin Ali, der Autor von "Leylim Ley“, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein angesehener Autor und Dichter. Er gilt als ein sehr einflussreicher Schriftsteller, obwohl er schon früh ein gewaltsamen Todes starb. Seine Werke galten in der damaligen Zeit durchaus als revolutionär. Inzwischen ist insbesondere dieses Lied so oft und in so vielen verschiedenen Stilen gecovert worden, dass daraus zuvorderst ein populäres Liebeslied geworden ist. 

 

 

Livaneli war der erste Künstler, der das Lied vertont hat, deshalb wird es mit ihm in Verbindung gebracht. Der Text stammt jedoch aus einem Gedicht, das in einer Kurzgeschichte enthalten war, die Ali 1937 veröffentlicht hatte. Man kann englische Übersetzungen des Gedichts finden, obwohl es außerhalb der Türkei nicht sehr bekannt ist. In eindringlich schönen Worten spricht es von den Gefühlen des Autors für die Angebetete und von seinem Exil fern der Heimat: "Verwandelt in ein trockenes Blatt, vom Baum geweht / Morgenwind reiß an mir, zerbrösle mich / Trage meinen Staub weg von hier / Am nackten Fuß der Geliebten, reibe mich.“

Wenn man sich die Interpretation von Altin Gun anhört, ist man erstaunt, wie es der Band gelingt, der Stimmung des Lieds treu zu bleiben und gleichzeitig den Text in einen völlig neuen musikalischen Kontext zu stellen. Ecevit und Dasdemir bringen mit ihrem Gesang die dem Song innewohnenden Emotionen äußerst feinfühlig zum Ausdruck. Dieses Stück ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie gut es der Band gelingt, ihren Stil mit traditionellen Texten zu verschmelzen. 

Ein schlagendes Herz 

Hat man alle zehn Stücke gehört, muss man einfach beeindruckt sein. Die Band schafft nicht nur brillante Versionen alter Lieder, sondern beweist auch, dass sie mit großer Virtuosität verschiedene Stile von moderner Musik beherrscht – von den klassischen Klängen des türkischen Psychedelic Folk der 1970er Jahre über die treibenden elektronischen Dance-Beats bis hin zu einer Kombination aus beidem – ihrer ureigenen einzigartigen Interpretation von Trance-House-Musik. 

Dennoch lassen sie sich nicht einfach von den elektronischen Klängen mitreißen. Unter den Synthesizern schlägt ein Herz: Man kann es in jedem subtilen Perkussion-Beat oder bei jedem Zupfen einer Baglama-Saite hören, die den Klangteppich, den die anderen Instrumenten erzeugen, durchdringen. Altin Gun schafft es auf diesem Album immer wieder zu überraschen – immer die eine kleine Besonderheit zu bringen, die den Song einzigartig macht und ihn von fast allem unterscheidet, was man bisher gehört hat. 

"Aṣk“ ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Vergangenheit und Gegenwart in perfekter Harmonie aufeinandertreffen und ein einzigartiges und erfrischendes Musikerlebnis schaffen können. Anhören und genießen! Die Musiker von Altin Gun mögen in Amsterdam leben, doch ihr Herz und ihre Seele sind fest in der Musikgeschichte der Türkei verwurzelt. 

Richard Marcus

© Qantara.de 2023



Aus dem Englischen von Karola Klatt.