Werben um den Autokraten 

Die EU hofft auf Tunis als Partner für die neue Asylpolitik. Das unterstreichen bei ihrem Besuch die Kommissionspräsidentin, die Regierungschefs Italiens und der Niederlande mit dem Angebot attraktiver Finanzhilfen. Ist Europa bereit, für die Rücknahme von Migranten Tunesiens Demokratieexperiment zu opfern?
Die EU hofft auf Tunis als Partner für die neue Asylpolitik. Das unterstreichen bei ihrem Besuch die Kommissionspräsidentin, die Regierungschefs Italiens und der Niederlande mit dem Angebot attraktiver Finanzhilfen. Ist Europa bereit, für die Rücknahme von Migranten Tunesiens Demokratieexperiment zu opfern?

Die EU hofft auf Tunis als Partner für die neue Asylpolitik. Das unterstreichen bei ihrem Besuch die Kommissionspräsidentin, die Regierungschefs Italiens und der Niederlande mit dem Angebot attraktiver Finanzhilfen. Ist Europa bereit, für die Rücknahme von Migranten Tunesiens Demokratieexperiment zu opfern? Von Mirco Keilberth, Tunis 

Von Mirco Keilberth

Wenige Tage nach der Verschärfung des Asylrechts sind EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Premierminister Mark Rutte und seine italienische Amtskollegin Giorgia Meloni am Sonntag nach Tunis gereist. Bei dem kurzfristigen Arbeitsbesuch bot das Trio Tunesiens Präsident Kais Saied eine zukünftig engere Kooperation bei Migration und Wirtschaft an. 

Der für seinen autokratischen Regierungsstil noch kürzlich von dem EU-Parlament kritisierte Saied erhält eine üppige Aufstockung der Zahlungen aus Brüssel. 100 Millionen Euro sollen für Grenz-Such- und Rettungsaktionen, Maßnahmen gegen Schleuser und Rückführungen von Migranten fließen.

150 Millionen Budgethilfe werden nach Tunis überwiesen, sobald ein für Ende des Monats geplantes Memorandum zwischen Tunesien und der EU verabschiedet sein wird. Eine makroökonomische Finanzspritze von 900 Millionen Euro soll noch in diesem Jahr fließen. Von der Leyen ergänzte nach den Verhandlungen im Präsidentenpalast, dass die Achtung der Menschenrechte bei der gemeinsamen Herangehensweise an das Thema Migration wichtig sei. 

Tunesien ist seit Monaten wesentliche Drehscheibe der Migranten, die per Boot über das Mittelmeer nach Italien gelangen. Nach Angaben des Innenministeriums in Rom wurden in diesem Jahr bereits 53 800 aus Tunesien kommende Migranten auf Lampedusa und Sizilien registriert, mehr als doppelt so viele wie im gesamten Vorjahr.

Neben Migranten aus Subsahara-Afrika verlassen auch immer mehr Tunesier ihre Heimat. Da nur sehr wenigen Tunesiern in der EU Asyl gewährt wird, dürften zukünftig fast alle Neuankommenden direkt in Italien inhaftiert und nach einem Schnellverfahren in ihre Heimat zurückgeschickt werden. 

Migranten aus Subsahara-Afrika in Tunesien; Fethi Belaid/AFP
Migration nach Europa weiter befeuert: Der tunesische Staatspräsident Kais Saied selbst hat mit einer hetzerischen Rede im Februar viele der ursprünglich mehr als 20 000 Migranten aus Tunesien getrieben, wo sie mangels Asylgesetz ohne klaren Aufenthaltsstatus arbeiteten. Sie seien Teil einer Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur Nordafrikas, behauptete der frühere Juraprofessor. 

Präsident Saied hat die Zahl der Bootsflüchtlinge weiter hochgetrieben 

Dem Zwölf-Millionen-Einwohner-Land drohte bis Sonntag wegen in diesem Jahr fälliger Rückzahlung mehrerer Kredite und der seit der Corona-Pandemie andauernden Wirtschaftskrise sogar der Staatsbankrott. Die mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) laufenden Verhandlungen über einen neuen Kredit von 1,9 Milliarden Dollar stocken seit Monaten, weil Präsident Saied die damit verbundenen Reformen ein Diktat nennt. Er hatte die Tunesier bisher darauf eingeschworen, die Krise alleine zu bewältigen. 

Am Vortag des Dreier-Besuchs in Tunis hatte Saied noch ausgeschlossen, dass sein Land als Grenzpolizei für Europa fungiere: "Wir können keine Rolle erfüllen, (...) in der wir ihre Länder bewachen", sagte er in Sfax. Ohne eine enge Kooperation mit Tunesien aber wird Italien den von Premierministerin Meloni als Erfolg gefeierten neuen Umgang mit den Migranten nicht umsetzen können.



Dabei war es sogar Kais Saied selbst, der mit einer hetzerischen Rede im Februar viele der ursprünglich mehr als 20 000 Migranten aus Tunesien trieb, wo sie mangels Asylgesetz ohne klaren Aufenthaltsstatus arbeiteten. Sie seien Teil einer Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur Nordafrikas, behauptete der frühere Juraprofessor. 

Seither kommt es zu rassistischen Übergriffen auf Migranten, deshalb warten viele Subsahara-Afrikaner an der Küste zwischen den Städten Mahdia und Sfax auf eine Überfahrt nach Europa. Täglich kommt es dabei zu Unglücken, Menschen sterben, weil die Schmuggler bis zu 40 Leute in völlig untaugliche Boote setzen. Mehrere westafrikanische Regierungen reagierten empört auf die Behandlung ihrer Landsleute in Tunesien. Die tunesische Regierung bestreitet, dass es zu Übergriffen gekommen sei, und wirbt nun wieder um westafrikanische Studenten, die visafrei in Tunesien einreisen können. 

Save our Democracy-Plakat auf einer Demonstration in Tunesien; Hassene Dridi/AP/picture alliance
Deal mit dem Autokraten: Der für seinen autokratischen Regierungsstil noch kürzlich vom EU-Parlament kritisierte Saied erhält eine üppige Aufstockung der Zahlungen aus Brüssel. 100 Millionen Euro sollen für Grenz-Such- und Rettungsaktionen, Maßnahmen gegen Schleuser und Rückführungen von Migranten fließen. 150 Millionen Budgethilfe werden nach Tunis überwiesen, sobald ein für Ende des Monats geplantes Memorandum zwischen Tunesien und der EU verabschiedet sein wird.

Ein Zusatzkredit aus Italien käme dem klammen Land gelegen 

Die politische Lage ist insgesamt äußerst angespannt. Mehr als 20 Politiker und Journalisten sitzen wegen Korruptionsvorwürfen in Haft, seit seinem Putsch im Juli 2021 regiert Saied mit präsidialen Dekreten. Um ihr Wahlversprechen umzusetzen, die Zahl der in Italien landenden Migranten drastisch zu reduzieren, hat Giorgia Meloni dennoch Saied und Libyens Premier Abdul Hamid Dabaiba als Partner ihrer geplanten Allianz gegen Menschenhändler und Migranten auserkoren. Bei ihren Blitzbesuchen in Tunis und Tripolis vergangene Woche beschlossen die drei eine baldige Konferenz mit Staaten, die an der Migrationsroute nach Europa liegen. 

Für den Fall eines Abkommens zwischen Tunesien und dem IWF will Italien noch einmal 700 Millionen Euro dazulegen. Selten sah man den meist distanziert und kühl auftretenden Präsidenten so herzlich lächeln wie bei dem gemeinsamen Auftritt mit der rechtsnationalen Meloni vor den TV-Kameras im Präsidentenpalast von Tunis-Karthago. 

Saied lehnt den IWF-Kredit ab, weil der damit verbundene Abbau der Subventionen von Konsumgütern vor allem Arbeitnehmer des informellen Sektors in Tunesien träfe. Im Süden des Landes wird fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung ohne Arbeitsverträge oder steuerliche Erfassung geleistet. Staatliche Sozialleistungen zur Abfederung steigender Benzin- und Lebensmittelpreise würden an informell Beschäftigten vorbeigehen. 

 



 

Tunesien soll sich nicht weiter China und Russland annähern 

Die geringe Beteiligung an der von Saied initiierten Parlamentswahl und der Volksabstimmung über die von ihm geschriebene Verfassung zeigt, dass auch der 2019 mit überwältigender Mehrheit gewählte Präsident nicht davor gefeit ist, dass es zu sozialen Unruhen kommt. Der italienische Zusatzkredit ist ein Entgegenkommen auf die auch von vielen Tunesiern geteilte Kritik an dem IWF-Programm. Die EU-Hilfen sind nicht an ein Reformprogramm gebunden, Brüssel möchte offenbar verhindern, dass sich Saied Peking, Riad oder Moskau zuwendet. 

Die ihm nahestehende "Nationale Partei Tunesiens" organisiert regelmäßig Podiumsgespräche mit den Botschaftern Chinas und Russlands und wirbt für Tunesiens Kooperation mit dem Brics-Staatenbund. Nach ihrer Kampagne gegen Migranten hatten die tunesischen Nationalisten bereits ein neues Feindbild ausgemacht: Die von westlichen Geldern geförderte tunesische Zivilgesellschaft wolle dem Land den westlichen Lebensstil diktieren und untergrabe den Versuch des Präsidenten, die Korruption der politischen Elite zu bekämpfen, verbreitete ein Sprecher der Bewegung in sozialen Medien. 

Damit könnten nun auch die seit dem Arabischen Frühling aktiven deutschen Stiftungen ins Visier der Behörden geraten. Die von ihnen unterstützte tunesische Zivilgesellschaft ist die letzte aktive Kontrollinstanz, um eine völlige Allmacht Saieds zu verhindern. Einen Tag vor ihrer Reise nach Tunis hatte die Delegation aus Europa noch ein Druckmittel an die Hand bekommen. Am Samstag setzte die Ratingagentur Fitch Tunesiens Kreditwürdigkeit um eine weitere Stufe auf CCC- herab. 

Ob die Besucher nun für ihre üppigen Geldgeschenke von Saied auch konkrete Schritte wie ein Ende der Verhaftungen von Oppositionellen und Migranten gefordert haben, ist nicht bekannt. Journalisten, die hätten nachfragen können, waren zur Abschlusserklärung des Besuchs nicht zugelassen. 

Mirco Keilberth 

© Süddeutsche Zeitung 2023