Schüsse an Europas Grenze? - Ein Syrer kämpft um Gerechtigkeit

Ende Februar 2020 erklärte die Türkei die Grenze nach Griechenland für geöffnet. Der Syrer Muhammad Hantou versuchte, wie Tausende andere Migranten in die EU zu gelangen - und wurde angeschossen. Bis heute leidet er an den Folgen und kämpft für Gerechtigkeit. Von Mirjam Schmitt, dpa

Istanbul. Hätte das Geschoss den Syrer Muhammad Hantou etwas höher oder niedriger am Kopf getroffen, wäre er heute nicht mehr am Leben. So habe es ihm ein Arzt vor einem Jahr in der griechisch-türkischen Grenzstadt Edirne gesagt, erzählt Hantou (21) in Istanbul. Graue Narben weisen auf die Verletzung am Ohr hin, diese beeinträchtigt ihn noch heute. Manchmal werde ihm schwindlig, sagt Hantou. Er könne sich nicht lange konzentrieren.



Hantou war wie Tausende andere Migranten Anfang März 2020 an der griechisch-türkischen Landgrenze. Die Menschen, darunter vor allem Afghanen, aber auch Syrer, Pakistaner und Iraker, hofften, in die EU zu gelangen, nachdem die Türkei die Grenze zu Griechenland für geöffnet erklärt hatte. Athen setzte das Asylrecht zeitweise aus.



Griechische Sicherheitskräfte drängten die Migranten mit Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcken zurück. Menschen steckten am Grenzfluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei fest. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland damals als «Schild» Europas.

Nach Erkenntnissen von internationalen Rechercheteams wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch scharfe Munition eingesetzt. Am Ende waren mindestens zwei Migranten tot: Der Syrer Muhammad al-Arab und der Pakistaner Muhammad Gulzar. Eine Syrerin gilt nach Angaben von Amnesty International als vermisst. Die Türkei beschuldigt Griechenland, für den Tod von drei Migranten verantwortlich zu sein. Athen weist die Vorwürfe zurück.

Was genau damals passiert ist, bleibt bis heute ungeklärt. Der Grünen- Europaabgeordnete Erik Marquardt sagt, es sei «sehr schockierend», dass die Vorfälle bislang folgenlos geblieben seien. «Da hätte ich erwartet, dass es einen größeren Aufschrei gibt.» Die Ereignisse von damals beeinflussen bis heute die EU Flüchtlingspolitik - und das Leben von Muhammad Hantou.



Es war Hantous dritter Anlauf, um nach Europa zu gelangen. Zwei Mal habe er es mit dem Boot versucht und sei gescheitert. Hantou trägt Kapuzenpulli und Jeans, er wirkt sportlich und spricht mit leiser, ruhiger Stimme. Er habe in die Niederlande gewollt, weil seine damalige Freundin dort lebe und sie sich verloben wollten, sagt er. Vor dem Krieg seien sie in Damaskus Nachbarn gewesen. Als Hantou hörte, dass die Grenzen angeblich offen seien, habe er sich in Istanbul in den Bus gesetzt.



Die Zustände an der Grenze beschreibt Hantou als chaotisch. Tagelang hätten die griechischen Grenzbeamten Tränengas gegen sie eingesetzt. Migranten wiederum hätten Steine geworfen, manche Löcher in den Zaun geschnitten. Auch er habe am 4. März auf die andere Seite gewollt.



«In dem Moment, als ich einen Fuß in das Loch gesetzt habe, haben sie geschossen», sagt er. Die Schüsse seien von der griechischen Seite gekommen. Er ging zu Boden, sein rechtes Ohr sei voller Blut gewesen - zwischenzeitlich habe er das Bewusstsein verloren.



Er könne sich noch daran erinnern, wie andere Migranten ihn in eine Decke legten und zum Krankenwagen schleppten, erzählt Hantou. «Ich glaube, dass ich von Schrotkugeln getroffen wurde.» Der medizinische Bericht, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, spricht von Kugeln aus einer Schusswaffe, die Hantou verletzt haben. Es gebe ein Einschussloch am rechten Ohr - eine Kugel stecke noch im rechten Schädelknochen fest. «Manchmal habe ich Schmerzen in dem Teil, wenn ich schlafen gehe. Manchmal habe ich Angst, dass ich hinfalle oder es sich entzündet und alles schlimmer wird.» Eigentlich müsse er operiert werden.



Sieben Tage lang war Hantou im Krankenhaus. «Dann bin ich zurück nach Istanbul und seitdem mache ich nicht mehr viel», sagt er. Am Anfang habe er wegen der Verletzung nicht arbeiten können. Seit drei Monaten hat er einen Job als Tellerwäscher in einem Restaurant.



In der Türkei leben rund vier Millionen Flüchtlinge, 3,6 Millionen davon sind Syrer. In einem Abkommen mit der EU hat sich die Türkei unter anderem dazu verpflichtet, gegen irreguläre Migration nach Europa vorzugehen. Im Gegenzug erhält das Land etwa Unterstützung für die Syrer im Land.



Präsident Recep Tayyip Erdogan setzt den Flüchtlingspakt immer wieder als Druckmittel ein. Auch die Grenzöffnung 2020 war nach Ansicht von Beobachtern ein Manöver Erdogans, um von der EU mehr Unterstützung zu erwirken. Griechenland hatte der Türkei Erpressung vorgeworfen und Berichte über Schüsse auf Migranten umgehend als «Fake News» zurückgewiesen.



Eine Anwältin aus Griechenland und eine aus der Türkei, kümmern sich um Hantous Fall. Wegen der Corona-Pandemie habe sie noch keine Beschwerde für ihn einlegen können, sagt die griechische Anwältin Nikki Georgiou der dpa. Sie habe Hantou als Zeugen im Fall des  getöteten Pakistaners Gulzar angegeben. Auf Anfrage der dpa erklärten die griechischen Behörden, die Vorwürfe angeblicher illegaler Handlungen seien «tendenziös». Solche Handlungen seien nicht Bestandteil der Praktiken griechischer Behörden. Die Ereignisse im März 2020 hätten die nationale Sicherheit bedroht.



Der Vorfall habe gezeigt, wie fragil das Konstrukt der EU-Flüchtlingspolitik sei und die Politik der Abschottung zementiert, resümiert Lucas Rasche, Migrationsexperte und Wissenschaftler an der

Berliner Denkfabrik Jacques Delors Centre. Griechenland sei nach wie vor alleine verantwortlich für einen Großteil der Asylanträge. Das Land werde, wenn es diese nicht bearbeiten könne, prinzipiell vor die Entscheidung gestellt, die Migranten einfach weiterziehen zu lassen, oder eben die Grenze abzuriegeln.



Mit der Rhetorik der EU sei zudem ein Bedrohungsszenario heraufbeschworen worden. Die Tatsache, dass das Asylrecht ausgesetzt wurde, ohne dass dies scharfe Kritik vonseiten der EU zur Folge hatte, habe «wie eine Art Freifahrtschein gewirkt, um die Grundrechte an der Grenze weiter zu untergraben.» Zurzeit steht auch die EU-Agentur Frontex in der Kritik, weil griechische Grenzbeamte mehrfach Boote mit Migranten illegal zurück in Richtung Türkei gedrängt haben sollen. Frontex-Beamte sollen dabei teils in der Nähe gewesen sein und dies nicht verhindert haben.  



Hantou sagt, er wolle nur Gerechtigkeit. «Ich weiß, dass derjenige, der auf mich geschossen hat, nur seine Arbeit gemacht hat, aber er hat einen Fehler gemacht und muss dafür bestraft werden», sagt er. Seine Träume seien zerstört, aber er verspüre keinen Ärger gegenüber Europa. Er glaube nach wie vor, dass Europa ein Ort sei, an dem er seine Rechte erhalte und wo man für ihn einstehe. (dpa)