Algier setzt auf Europas Erdgasrausch

Nach dem Algerien-Besuch der italienischen Premierministerin wollen beide Länder ihre Energiekooperation ausbauen. Algiers Abhängigkeit vom Erdgasrausch wird aber nur weiter zementiert. Von Sofian Philip Naceur

Von Sofian Philip Naceur

Italiens rechtsextreme Regierung von Premierministerin Giorgia Meloni und Algeriens autoritäres Regime unter Staatspräsident Abdelmajid Tebboune und Armeechef Saïd Chengriha schmieden eine neue Achse. Der öffentlichkeitswirksam inszenierte Algier-Besuch Melonis im Januar könnte in der Tat einer substantiellen Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Staaten den Weg ebnen.



Ob eine solche Vertiefung jedoch wirklich zu einem langfristigen Win-Win für die Bevölkerungen beider Länder führen wird, wie Melonis hochtrabende Rhetorik während und vor dieser ersten bilateralen Auslandsreise seit ihrer Amtsübernahme nahelegt, darf bezweifelt werden.

In ihrer Antrittsrede hatte Meloni erstmals einen sogenannten "Mattei-Plan“ für Afrika ins Spiel gebracht. Der Fratelli d’Italia-Politikerin zufolge könne dieser ein "positives Modell der Zusammenarbeit und des Wachstums zwischen EU und afrikanischen Ländern“ werden. Was sie mit diesem zunächst vage gehaltenen Vorstoß genau meint, nimmt seit ihrem Algier-Besuch sowie den jüngsten Gesprächen italienischer Offizieller in Ägypten, Libyen und Tunesien konkretere Formen an: einen massiven Ausbau der Energiekooperation Italiens mit seinen südlichen Nachbarn.

Angetrieben von Europas Versuchen, sich angesichts von Russlands Einmarsch in der Ukraine von Moskaus Gaslieferungen unabhängiger zu machen, will Rom nun eine Schlüsselrolle dabei spielen, fossiles Erdgas aus Libyen, Ägypten und vor allem Algerien in die EU zu importieren.

Gaskraftwerk in Algerien; Foto: picture- alliance/dpa/R.Kramdi
Gaskraftwerk in Algerien: Noch vor dem Krieg lieferte Russland rund 40 Prozent von Italiens Erdgasbedarf. Inzwischen ist aber Algerien Italiens mit Abstand wichtigster Energieversorger, flossen doch 2022 mehr als 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Algerien nach Italien, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Geht es nach Meloni und dem Vorsitzenden des italienischen Energiemultis ENI, Claudio Descalzi, soll dieser Wert in den kommenden Jahren auf über 36 Milliarden Kubikmeter steigen.

Italiens Charmeoffensive in Algier

Noch vor dem Krieg lieferte Russland rund 40 Prozent von Italiens Erdgasbedarf. Inzwischen ist aber Algerien Italiens mit Abstand wichtigster Energieversorger, flossen doch 2022 mehr als 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Algerien nach Italien, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Geht es nach Meloni und dem Vorsitzenden des italienischen Energiemultis ENI, Claudio Descalzi, soll dieser Wert in den kommenden Jahren auf über 36 Milliarden Kubikmeter steigen.

Im Rahmen ihrer Algerien-Visite besuchte Meloni symbolträchtig einen nach ENI-Gründer Enrico Mattei benannten Park nahe des Stadtzentrums von Algier, während der in ihrer Delegation mitgereiste ENI-Chef Descalzi – "der Architekt des derzeitigen Schwenks Italiens von russischem zu algerischem Gas“, so der TV-Sender France24 – gemeinsam mit dem Generaldirektor der staatseigenen algerischen Energiegesellschaft Sonatrach, Toufik Hakkar, zwei als "strategisch“ bezeichnete Abkommen in Sachen Erdgasförderung unterzeichnete.

Meloni inszeniert sich zwar als treibende Kraft hinter dem Ausbau der algerisch-italienischen Achse, doch eingeleitet wurde der Erdgasrausch Italiens in Algerien noch von ihrem Vorgänger Mario Draghi. Unter dessen Ägide war 2022 bereits die Verdoppelung der Erdgaslieferungen aus Algerien vereinbart worden. Meloni geht nun noch einen Schritt weiter und will Italien zu einem Verteilerknoten für die Gasversorgung Zentraleuropas machen – Transitgebühren, die bei der Weiterleitung nach Norden anfallen, wären in Italiens klammem Staatshaushalt gern gesehen.



Dafür sollen nun nicht nur bestehende Pipeline-Kapazitäten ausgeschöpft und erweitert, sondern auch Italiens Flüssiggasindustrie massiv ausgebaut werden. Mit Staaten wie Ägypten verhandelt Rom schon über zusätzliche Lieferungen von Flüssiggas.

Meloni in Libyen; Foto: Foto: Filipo Attili/Italian Government Press/ANSA/picture-alliance
Italiens rechtspopulistische Ministerpräsidentin Georgia Meloni mit dem libyschen Regierungschef Abdul Hamid Dbaiba. Angetrieben von Europas Versuchen, sich angesichts von Russlands Einmarsch in der Ukraine von Moskaus Gaslieferungen unabhängiger zu machen, will Rom eine Schlüsselrolle dabei spielen, fossiles Erdgas aus Nordafrika nach Europa zu holen. Meloni will Italien zu einem Verteilerknoten für die Gasversorgung Zentraleuropas machen – Transitgebühren, die bei der Weiterleitung nach Norden anfallen, wären in Italiens klammem Staatshaushalt gern gesehen.

Auch Algerien will Gas-Hub werden

Roms energiepolitische Pläne stoßen derweil in Algier auf offene Ohren. "Wir wollen, dass Italien ein europäisches Drehkreuz für algerisches Gas wird, ein Knotenpunkt für andere EU-Länder“, sagte der algerische Botschafter in Rom, Abdelkrim Touahria, der italienischen Zeitung Il Messaggero kurz vor Melonis Algerien-Visite.



Denn auch Algier will seine Position als Erdgaslieferant ausbauen und zusätzlich Transitland für Gas aus Westafrika werden. Dafür soll nun das 2009 vorgestellte, aber seit Jahren vernachlässigte Projekt einer rund 4200 Kilometer langen Erdgaspipeline von Nigeria an Algeriens Mittelmeerküste neu belebt werden, um Algerien ähnlich wie Italien in einen Transit-Hub für Kohlenwasserstoffe zu verwandeln.

Die bei einem solchen Projekt anfallenden Transitgebühren kann auch Algerien gut gebrauchen, steckt das Land doch angesichts des zwischen 2014 und 2020 stark gesunkenen Weltmarktpreises für Erdöl und Gas in einer tiefen Wirtschaftskrise. Algerien hat sprichwörtlich seine Währungsreserven verbrannt und nun mit einem heftigen Budgetdefizit zu kämpfen.



Investitionen in den Energiesektor blieben aus, auch weil Algiers protektionistische Wirtschaftspolitik im letzten Jahrzehnt selbst ausländische Investitionen in den Energiesektor ausbremste. Die Industrie gilt als veraltet und muss modernisiert werden, neue Gas- und Ölfelder müssen erst erschlossen werden.

Auch deshalb konnte Algerien nach Beginn des Ukraine-Krieges nicht rasch einspringen und Russlands Exporte nach Europa ersetzen. Die Verdoppelungen der Lieferungen nach Italien waren nur möglich, da Algerien seine Erdgaslieferungen nach Spanien aussetzte, nachdem sich Madrid im Konflikt um die von Marokko annektierte Westsahara auf die Seite der Besatzer geschlagen hatte – für Algier ein nicht hinnehmbarer Affront. Seither sind zwei Gaspipelines, die Algeriens Verteilernetz mit Spanien verbinden, trockengelegt.

Dabei will Algerien nun auch wirtschafts- und geopolitisch vom Ukraine-Krieg profitieren und sich als Alternative zu Russland präsentieren. Algier hofft dabei nicht nur auf zusätzliche Einnahmen aus dem Erdgasexport, sondern hätte als zunehmend unersetzlicher Energielieferant der EU bei zukünftigen Konflikten ein wirkungsvolles Druckmittel in der Hand.

Anti-Regierungsproteste in Algerien; Foto: Reuters/R. Boudina
Mit mehr Einnahmen den sozialen Frieden erkaufen: Im Hirak-Aufstand 2019 protestierten Algerier gegen staatliche Willkür und Repression. Sowohl mit dem Ausbau der Erdgasindustrie als auch der intensivierten Ausbeutung anderer Rohstoffe dürfte Algeriens Regierung früher oder später massive Einnahmezuwächse akquirieren. Damit könne das autoritäre Regime wiederum seine Sozialausgaben und Subventionen auf Lebensmittel erhöhen und somit erneut versuchen, sich einen fragilen sozialen Frieden zu erkaufen, schreibt Sofian Naceur. Eine langfristige Lösung für die strukturellen Probleme des Landes ist das jedoch nicht.



Ebenfalls geplant sind Kooperationen mit US-amerikanischen Firmen im Schiefergassektor – trotz der teils heftigen Repressalien algerischer Behörden gegen die Proteste der Anti-Schiefergas-Bewegung im Süden des Landes. Nachdem sich US-Unternehmen im Öl- und Gassektor der Region jahrelang zurückgehalten hatten, da Investments als riskant galten und der boomende Schiefergassektor im eigenen Land priorisiert worden war, drängen US-Firmen heute zurück auf die Märkte, auch in Algerien.

Wie das Wall Street Journal im Februar berichtete, will der US-Ölgigant Chevron ein neues Explorationsgeschäft mit Algier in der Schiefergasförderung abschließen. Schon 2022 hatte sich der US-Konzern Occidental in ein konventionelles Erdgasprojekt im Süden Algeriens eingekauft.

Rentier-Ökonomie als Strukturproblem

Auf der Suche nach neuen Renteneinnahmen aus dem Rohstoffexport setzt Algerien aber nicht nur auf den Energiesektor, sondern baut auch die Förderkapazitäten von Marmor, Zink, Gold und Phosphat massiv aus. Erst 2022 unterzeichneten algerische und chinesische Offizielle die Verträge für ein Phosphatförderprojekt mit einem Gesmtumfang von sieben Milliarden US-Dollar. Der Deal ist der bisher größte in den Bereichen Bergbau und Düngemittelproduktion im Land und soll die Produktion von derzeit drei Millionen Tonnen an Phosphatprodukten auf sechs Millionen pro Jahr steigern.

Sowohl mit dem Ausbau der Erdgasindustrie als auch der intensivierten Ausbeutung anderer Rohstoffe dürfte Algeriens Regierung früher oder später massive Einnahmezuwächse akquirieren. Damit wiederum kann das autoritäre Regime wie bereits in den 2000er Jahren unter dem durch den Hirak-Aufstand 2019 aus dem Amt gejagten Ex-Präsidenten Abdelaziz Bouteflika seine Sozialausgaben und Subventionen auf Lebensmittel erhöhen und somit erneut versuchen, sich einen fragilen sozialen Frieden zu erkaufen.

Der Strukturschwäche der Wirtschaft hingegen wird mit dieser Rentier-Politik ebenso wenig etwas entgegengesetzt wie der grassierenden Arbeitslosigkeit. Algeriens auf Rentenakquise ausgelegte Wirtschaftspolitik wird das Land makroökonomisch stabilisieren, festigt aber die Rolle der Bevölkerung als reinem Bittsteller, der auf sozialpolitische Initiativen des Regimes angewiesen ist, um zu überleben. Eine auf Schaffung von Arbeitsplätzen ausgerichtete Wirtschaftspolitik steht dieser Renten akquirierenden Erdgasökonomie diametral entgegen.

Derweil ist sich das Regime seines energiepolitischen Einflussgewinns in Europa durchaus bewusst und muss auch deshalb keine nennenswerte Kritik an Menschenrechtsverstößen aus dem europäischen Ausland befürchten. Die jüngsten Verbote der Menschenrechtsliga LADDH, des Jugendverbandes RAJ und der Oppositionspartei MDS sowie die Inhaftierung des regierungskritischen Journalisten Ihsane El-Kadi lassen die Aussichten auf Entspannung in Sachen Menschenrechtslage in Algerien eher düster anmuten.

Sofian Philip Naceur

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