"Die Ausbeutung von Frauen wird normalisiert“ 

In der Krise verschlechtere sich die Lage der Arbeitsmigrantinnen im Libanon dramatisch, sagt die libanesische Feministin Ghina al Andary. Im Interview spricht sie darüber, wie das Kafala-System immer mehr Frauen in die Prostitution treibt. Von Andrea Backhaus aus Beirut

Von Andrea Backhaus

Der Libanon erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Viele Menschen sind von Armut bedroht, die Versorgungslage ist katastrophal. Wie wirkt sich die schwierige Lage auf die Frauen aus?  

Al Andary: Für die Frauen ist es verheerend. In Krisenzeiten laufen Frauen noch stärker Gefahr, missbraucht und ausgebeutet zu werden, insbesondere in einem Land wie dem Libanon, in dem patriarchalische Strukturen tief verwurzelt sind. Die Ausbeutung von Frauen wird normalisiert.  

Wer ist besonders betroffen? 

Al Andary: Wir sehen, dass die häusliche Gewalt gegen Libanesinnen zunimmt. Noch stärker betroffen sind aber die migrantischen Hausangestellten, weil sie schutzlos sind.  

Das Kafala-System ist im Libanon weitverbreitet. Kafala ist Arabisch und bedeutet Bürgschaft. Libanesen lassen Arbeitskräfte in ihren afrikanischen und asiatischen Heimatländern anwerben und sind als Bürgen für sie verantwortlich. Was bedeutet das für die Angestellten? 

Al Andary: Das bedeutet, dass ihr rechtlicher Status und ihr Einkommen allein von ihren Bürgen abhängen. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist daran gebunden, dass sie für den Bürgen arbeiten. Wenn sie die Arbeitsstelle aufgeben, müssen sie den Libanon verlassen oder einen anderen Arbeitgeber finden, um sich legal im Land aufzuhalten.



Die Bürgen kommen für die Reisekosten, die Krankenversicherung und die Unterbringung ihrer Angestellten auf. Die migrantischen Hausangestellten kommen aus ärmlichen Verhältnissen und sind den Bürgen ausgeliefert. Und diese nutzen die Abhängigkeit und die Macht, die ihnen das Kafala-System gibt, aus. 

Die libanesische Frauenrechtlerin Gina al-Andary; Foto: privat
Ghina al Andary ist eine libanesische Frauenrechtlerin und Aktivistin. Sie arbeitet für die Nichtregierungsorganisation KAFA in Beirut. KAFA ist Arabisch und bedeutet "Genug“. Die Organisation setzt sich seit 2005 gegen die Diskriminierung von Frauen und für den Schutz von Kindern ein. "Wir haben eine Hotline, mit der wir Frauen helfen, die von ihren Arbeitgebern misshandelt wurden,“ sagt Al Andary. "Wir bieten den Frauen eine sichere, geheime Unterkunft und helfen ihnen, einen anderen Arbeitgeber zu finden oder nach Hause zurückzukehren. Wir bieten ihnen rechtliche und psychosoziale Hilfe. Und wir unterstützen sie dabei, bei der Polizei Anzeige gegen ihre Arbeitgeber zu erstatten.“  

Massive Ausbeutung

Auf welche Weise? 

Al Andary: Sie beuten die Hausangestellten, die für sie arbeiten, aus. Sie nehmen ihnen die Pässe weg und lassen sie oft ohne Pausen sieben Tage in der Woche arbeiten. Sie geben ihnen kaum etwas zu essen und zu trinken und verlangen von ihnen, dass sie auf dem Boden schlafen. Es kommt oft vor, dass die Familienmitglieder die Angestellten schlagen oder verbal herabsetzen.  

Wie viele migrantische Hausangestellte sind derzeit im Libanon? 

Al Andary: Vor Beginn der Krise 2019 waren rund 250.000 migrantische Hausangestellte im Libanon, jetzt sind es weniger als 100.000 Menschen. Das sind Schätzungen, es gibt keine offiziellen Zahlen.



Viele Hausangestellte sind nach der Explosion im Beiruter Hafen in ihre Heimatländer in Afrika oder Asien zurückgekehrt, doch noch immer werden Menschen rekrutiert. Die Hausangestellten sind durchweg Frauen. Männer werden für andere Jobs angeworben, etwa, um an Tankstellen zu arbeiten.  

In den Jahren nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) ging es vielen Libanesen finanziell gut und sie konnten sich eine ausländische Haushaltshilfe leisten. Die Frauen haben im Libanon gut verdient und konnten Geld in ihre Heimat schicken. Hat sich das geändert? 

Al Andary: Es gibt noch immer libanesische Familien, die finanziell gut dastehen und sich eine ausländische Haushaltshilfe holen. Vor der Krise kamen vor allem Äthiopierinnen in den Libanon.



Die äthiopische Regierung hat ihren Staatsbürgerinnen aber inzwischen die Arbeit im Libanon untersagt, die libanesische Regierung vergibt deshalb keine Arbeitsvisa mehr an Äthiopierinnen. Andere Länder haben ein solches Verbot nicht. Im Moment kommen vor allem Frauen aus Kenia und Sierra Leone. Sie werden genauso ausgebeutet wie die Äthiopierinnen.  

Dass der libanesische Staat die Frauen der Willkür ihrer Arbeitgeber überlässt, bezeichnen Menschenrechtsorganisationen als „moderne Sklaverei“.  

Al Andary: Das ist es auch. Die Arbeitgeber müssen einen Vertrag mit den Frauen abschließen, der einheitlich geregelt ist. Darin ist klar aufgeführt, dass die Frauen einen Tag pro Woche frei bekommen müssen, dass sie einen Jahresurlaub nehmen können, ordentlich untergebracht werden und genug Kleidung und Essen gestellt bekommen. Doch die meisten Arbeitgeber halten sich nicht an diese Abmachungen und es gibt keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Das Arbeitsministerium, das für die Rechte der Arbeitnehmerinnen zuständig ist, geht diesen Verstößen nicht nach.  

Warum nicht?  

Al Andary: Schon vor der Krise sind die staatlichen Institutionen ihrer Verantwortung nicht nachgekommen. Sie haben weder die Hausarbeit reguliert noch die Anwerbung und die Arbeitsbedingungen der migrantischen Hausangestellten überwacht. Jetzt ist der Libanon ein failed state. Das System ist zusammengebrochen. Bei den Behörden fühlt sich keiner mehr für irgendetwas verantwortlich.  



[embed:render:embedded:node:41757]

 

"Die Krise im Libanon hat die Situation verschlimmert"

Laut einer Studie der Lebanese American University haben in den vergangenen Jahren zwei Drittel der weiblichen Arbeitsmigranten im Libanon sexuelle Belästigung erlebt. Sie wurden von ihren männlichen Bürgen ungewollt berührt oder geküsst, einige auch vergewaltigt.  

Al Andary: Die Krise im Libanon hat die Situation für diese Frauen noch verschlimmert. Viele der Frauen werden sogar in die Prostitution gezwungen.  

Durch wen? 

Al Andary: Durch Männer aus der eigenen Bevölkerungsgruppe, aber auch von libanesischen oder syrischen Männern im Libanon. Das Kafala-System ist verantwortlich für die Ausbeutung dieser Frauen. Es ermöglicht Arbeitgebern, die Frauen auf die Straße zu setzen, wohl wissend, dass sie nirgendwo hinkönnen.



Oder es zwingt die Frauen, vor ihren gewalttätigen Arbeitgebern zu fliehen, ohne dass sie wissen, wo sie sonst unterkommen können. Auf der Straße treffen sie auf Menschen, die sie weiter ausbeuten und missbrauchen. Diese Frauen kommen in den Libanon, weil sie der Armut und Hoffnungslosigkeit in ihrer Heimat entfliehen wollen. Sie sind besonders schutzlos. Genau deshalb nehmen diese Männer sie ins Visier. 

Und vorher gab es das nicht? 

Al Andary: Das gab es auch vorher, aber es war nicht so offensichtlich. Wir sind mit vielen der Frauen in Kontakt. Sie sagen, dass sie von Mitarbeitern der Agenturen, die sie an die Familien im Libanon vermittelt haben, verbal und körperlich misshandelt worden seien.



Wir vermuten, dass die sexuelle Ausbeutung dieser Frauen systematisch erfolgt und schon in ihren Herkunftsländern oder gleich nach ihrer Ankunft im Libanon beginnt. Es ist auffallend, dass so viele der Frauen ihre Arbeitsstellen schon kurz nach ihrer Ankunft aufgeben. 

Wie läuft das Ihrer Ansicht nach ab? 

Al Andary: Die Mitarbeiter der Agenturen belügen die Frauen. Sie sagen den Frauen etwa, dass sie im Libanon ein unbeschwertes Leben führen und viel Geld verdienen können. Sobald die Frauen im Libanon ankommen, merken sie, dass die Arbeitsbedingungen sehr hart sind und sie sich an niemanden wenden können.

Nepalesische Hausangestellte in Beirut; Foto: Andrea Backhaus
Seltene Erfolgsgeschichte: Mithilfe der Organisation KAFA hat eine Frau aus Nepal (auf dem Bild) erfolgreich ihren ehemaligen Arbeitgeber verklagt. Dieser hatte die Frau fast zehn Jahre lang in seiner Wohnung eingesperrt und sie Tag und Nacht schuften lassen – und ihr nicht einmal das vereinbarte Gehalt gezahlt. Der Generalstaatsanwalt verpflichtete den Arbeitgeber dazu, der Frau das gesamte Gehalt auszuzahlen, insgesamt 15.000 US-Dollar, und schickte ihn für eine Weile ins Gefängnis. "In letzter Zeit hat sich die Art und Weise, wie die libanesische Justiz mit den Vorwürfen dieser Frauen umgeht, durchaus gebessert,“ sagt Al Andary. "Aber es bleibt noch viel zu tun.“



Die Frauen werden dann von Leuten kontaktiert, die ihnen versprechen, ihnen zu helfen, wenn sie ihren Arbeitgeber verlassen. Das sind etwa Männer, die den Frauen anbieten, bei ihnen zu wohnen, wenn sie die Mietkosten durch Prostitution abgelten. Auch Frauen werben die Neuankömmlinge an. Das sind Frauen, die sich selbst prostituieren und von Männern unter Druck gesetzt werden, andere Frauen anzuwerben. Wir haben keine Beweise dafür, dass das systematisch stattfindet. Aber die Frauen erzählen uns diese Geschichten und wir halten sie für glaubwürdig. 

Das Kafala-System treibt Frauen in die Prostitution

Prostitution ist im Libanon de facto illegal. Was passiert mit den Frauen, wenn sie von der Polizei aufgegriffen werden? 

Andary: Die Frauen werden kriminalisiert und müssen oft für mehrere Monate ins Gefängnis. Nur wenn der Richter zu dem Schluss kommt, dass die Frau ein Opfer ist und gegen ihren Willen in die Prostitution gedrängt wurde, kommt sie frei, muss aber in ihre Heimat zurückkehren.

Die Männer, die die Frauen in die Prostitution gezwungen haben, werden selten zur Verantwortung gezogen. Sie müssen höchstens für kurze Zeit ins Gefängnis, wenn überhaupt. Das Kafala-System drängt die Frauen in die Prostitution und durch die Prostitution werden sie ein zweites Mal zu Opfern.  

Welche Möglichkeiten haben die Frauen, wenn sie ihren Arbeitgeber verlassen wollen? 

Al Andary: Sie haben keine Chance, ein besseres Leben im Libanon zu führen. Ohne die Anstellung verlieren sie ihren Aufenthaltsstatus und laufen Gefahr, inhaftiert oder abgeschoben zu werden. Sie werden von der General Security angehalten, bei ihrem Arbeitgeber zu bleiben. Der Arbeitgeber kann den Vertrag sehr einfach kündigen, aber die Angestellten können das nicht.



Auch kommt es vor, dass Mitarbeiter der Vermittlungsagenturen den Frauen mit Gewalt drohen, sollten sie erwägen, ihre Arbeitgeber zu verlassen. Diese Frauen können nirgendwo hin. Ihre Situation wird sich nur verbessern, wenn das Kafala-System abgeschafft wird und für sie das libanesische Arbeitsgesetzbuch gilt. Aber das ist schwer durchzusetzen, denn zu viele Leute profitieren von der Ausbeutung der Frauen. 

Wie kann Ihre Organisation den Frauen helfen? 

Al Andary: Wir haben eine Hotline, mit der wir Frauen helfen, die von ihren Arbeitgebern misshandelt wurden. Wir bieten den Frauen eine sichere, geheime Unterkunft und helfen ihnen, einen anderen Arbeitgeber zu finden oder nach Hause zurückzukehren. Wir bieten ihnen rechtliche und psychosoziale Hilfe. Und wir unterstützen sie dabei, bei der Polizei Anzeige gegen ihre Arbeitgeber zu erstatten.  

 

Racism within the kafala, or sponsorship, system plays a major role in the abuse of migrant domestic workers in Lebanon. Yet the law fails to protect them. We support @EgnaLegnaDWU & @jasminldiab in their efforts to #IncludeUsInLaw205. #EndKafala https://t.co/nlZsNEIaxq pic.twitter.com/jOGOkTxwd4

— Global Fund for Women (@GlobalFundWomen) October 19, 2022

 

Mehr Bewusstsein in der Justiz

Was tut die Polizei?  

Al Andary: Leider zu wenig. Die Behörden gehen den Vorwürfen kaum nach. Selbst Morde an diesen Frauen werden selten aufgeklärt, und die gibt es immer wieder. Viele Polizisten sind bei diesen Frauen voreingenommen und nehmen ihre Fälle nicht ernst. Insgesamt erfahren die Frauen im Libanon viel Rassismus.



Wir schulen Polizisten und Beamte von der Einwanderungsbehörde. Wir wollen die libanesische Gesellschaft durch Aufklärungskampagnen für die missliche Lage der Frauen sensibilisieren. Man darf aber nicht vergessen: Einigen Frauen ist es gelungen, ihre Rechte einzufordern. 

Ein Fall hat besondere Aufmerksamkeit erregt. Ihre Organisation hat eine Frau aus Nepal dabei unterstützt, ihren ehemaligen Arbeitgeber zu verklagen. Der hatte die Frau fast zehn Jahre lang in seiner Wohnung eingesperrt und sie Tag und Nacht schuften lassen – und ihr nicht einmal das vereinbarte Gehalt gezahlt. Der Generalstaatsanwalt verpflichtete den Arbeitgeber dazu, der Frau das gesamte Gehalt auszuzahlen, insgesamt 15.000 US-Dollar, und schickte ihn für eine Weile ins Gefängnis. Glauben Sie, dass es künftig mehr Erfolgsgeschichten geben wird? 

Al Andary: In letzter Zeit hat sich die Art und Weise, wie die libanesische Justiz mit den Vorwürfen dieser Frauen umgeht, durchaus gebessert. Aber es bleibt noch viel zu tun. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Rechtssystem im Libanon in der gegenwärtigen Krise kaum noch funktionsfähig ist. Die Möglichkeiten, diese Fälle gerichtlich weiterzuverfolgen, sind deshalb sehr beschränkt.  

Das Interview führte Andrea Backhaus.



© Qantara.de 2023