Abkehr vom Westen

Die arabische Öffentlichkeit verändert zunehmend ihre Haltung gegenüber der Rolle von USA und Europa im Nahen Osten. Dies wird Folgen für die Zukunft der Region haben.
Die arabische Öffentlichkeit verändert zunehmend ihre Haltung gegenüber der Rolle von USA und Europa im Nahen Osten. Dies wird Folgen für die Zukunft der Region haben.

Die arabische Öffentlichkeit verändert zunehmend ihre Haltung gegenüber der Rolle von USA und Europa im Nahen Osten. Dies wird Folgen für die Zukunft der Region haben. Von Walid Al-Sheikh

Essay von Walid Al-Sheikh

Während die Großmächte im Nahen Osten weiterhin miteinander um Einfluss ringen, wächst in der öffentlichen Meinung die Unzufriedenheit mit den Vereinigten Staaten und in geringerem Maße auch mit der Europäischen Union. Im Gegensatz dazu gewinnen Russland und China an Popularität. 

Eine von der BBC im letzten Jahr veröffentlichte Umfrage unter arabischen Jugendlichen ergab einen Rückgang der Beliebtheit der Vereinigten Staaten: Eine deutliche Mehrheit von 57 Prozent der Jugendlichen sieht in den USA mittlerweile eher einen Feind als einen Verbündeten. Russland hingegen wird von 70 Prozent der befragten jungen Menschen als enger Verbündeter gesehen. Nur eine Minderheit von 26 Prozent sieht in Russland einen Feind. 

Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung führte kürzlich eine ähnliche, aber breiter angelegte Meinungsumfrage in Israel, der Türkei, Iran und neun weiteren arabischen Ländern durch. 

In fünf Ländern, die traditionell als Verbündete Washingtons gelten, darunter den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Jordanien, vertraut die Öffentlichkeit eher Russland als den USA. In sieben Ländern wird der Krieg in der Ukraine als geopolitischer Konflikt zwischen Russland und dem Westen und nicht als Krieg zwischen zwei Ländern wahrgenommen. In allen neun Ländern wird Washington als größter Nutznießer des Krieges gesehen.

Lieber Russland als die USA

In allen untersuchten Ländern unterstützt eine Mehrheit der Befragten den Rückzug des US-Militärs aus der Region. In sieben Ländern bekräftigten sie mehrheitlich die These, dass ein Rückzug der USA den Nahen Osten sicherer machen und die Beziehungen innerhalb der Region verbessern würde. Selbst in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar – also den engsten Verbündeten Washingtons im Nahen Osten – überwiegt die öffentliche Wahrnehmung, dass eine Präsenz Russlands für die arabische Region vorteilhafter sei als die amerikanische. 

Flaggen der USA, VAE, Israels und Bahrains; Foto: Picture-alliance/dpa/A.Schalit
Die arabische Öffentlichkeit hat die lange Geschichte des westlichen Kolonialismus in der Region, die anhaltende Parteinahme des Westens für Israel und die Invasionen der USA in Afghanistan und im Irak nicht vergessen, schreibt Walid Al-Sheikh.  Viele Menschen aus der Generation des Arabischen Frühlings fühlten sich zudem vom Westen im Stich gelassen, der die autoritären Regime der Region aus wirtschaftlichen und politischen Interessen unvermindert unterstützt.



In allen neun untersuchten Ländern stimmte eine Mehrheit der Befragten der Einschätzung zu, dass Europa zu seinem militärischen Schutz auf die USA angewiesen sei. In sieben Ländern, darunter Ägypten, Saudi-Arabien und Jordanien, sprachen sich die Befragten mehrheitlich gegen eine stärkere europäische Militärpräsenz in der Region aus.



Mit Blick auf die gegenwärtige Weltordnung sieht eine Mehrheit der Befragten in sechs arabischen Ländern die Welt auf dem Weg zu einer stärker multipolaren Ordnung. In drei Ländern wird erwartet, dass sich die derzeitige, von der Vorherrschaft der USA geprägte Ordnung, bald verändern wird. 

Laut einer anderen Umfrage von Arab Barometer im Auftrag der BBC ist China in acht von neun arabischen Ländern beliebter als die USA. Einige dieser Länder gelten als langjährige Verbündete Washingtons. 

Sieg im Propagandakrieg 

In den sozialen Medien der arabischen Welt lehnt eine deutliche Mehrheit der Menschen zwar den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ab. Die Ablehnung richtet sich jedoch vor allem gegen die USA und die EU: Sie werden von der arabischen Öffentlichkeit dafür verantwortlich gemacht, Russland in einen Krieg verwickelt zu haben, der für den Nahen Osten und Nordafrika wirtschaftlich nachteilig ist. 

In einer Vielzahl von Publikationen, darunter sowohl regierungsnahen als auch privaten Zeitungen, werfen arabische Autoren den USA und der EU "Doppelmoral“ vor. Sie beziehen sich dabei auf die energische Reaktion der USA und der EU auf den russischen Krieg in der Ukraine im Vergleich zur Passivität beider Akteure in anderen internationalen Konflikten, wie etwa den anhaltenden israelischen Operationen im Gazastreifen. Viele argumentieren, dass Putins Einmarsch in die Ukraine nicht schlimmer sei als der Einmarsch der USA in den Irak unter Präsident George W. Bush. 

Es gibt aber noch weitere, tiefer liegende Gründe für die wachsende Unzufriedenheit der arabischen Welt mit dem Westen: die lange Geschichte des westlichen Kolonialismus in der Region, die anhaltende Parteinahme des Westens für Israel und die Invasionen der USA in Afghanistan und im Irak.



Viele Menschen aus der Generation des Arabischen Frühlings fühlten sich zudem vom Westen im Stich gelassen, weil dieser die autoritären Regime der Region aus wirtschaftlichen und politischen Interessen unvermindert unterstützte. Diese Faktoren haben in den letzten Jahren das Erstarken islamistischer und antiwestlicher nationalistischer Strömungen begünstigt. 

Wladimir Putin mit Scheikh Mohammed bin Zayed al Nahyan, Präsident der VAE, in Abu Dhabi; Foto: Mikhail Metzel/Tass/picture-alliance
"Russland hat trotz seiner Rolle im Syrienkrieg in vielen arabischen Ländern deutlich an Popularität gewonnen. Es wird in der Region häufig als Gegengewicht zur Dominanz der USA wahrgenommen. Auch die Lieferung von subventioniertem Getreide und Treibstoff an einige arabische Länder hat dazu beigetragen, dass Russland die Herzen und Köpfe der Araber gewonnen hat,“ schreibt Walid Al-Sheikh. Auf dem Bild ist Russlands Präsident Putin (links) mit Mohammed bin Zayed Al Nahyan, Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, in Abu Dhabi beim Besuch der Bibliothek im Qasr Al Watan Präsidentenpalast zu sehen..



Russland hat trotz seiner Rolle im Syrienkrieg in vielen arabischen Ländern deutlich an Popularität gewonnen. Es wird in der Region häufig als Gegengewicht zur Dominanz der USA wahrgenommen. Auch die Lieferung von subventioniertem Getreide und Treibstoff an einige arabische Länder hat dazu beigetragen, dass Russland die Herzen und Köpfe der Araber gewonnen hat. 

China hingegen wird von vielen Arabern als nicht-koloniale Macht wahrgenommen, die sich in den letzten Jahren auf den Aufbau wirtschaftlicher Beziehungen ohne explizite politische Ambitionen konzentriert hat. China ist inzwischen der größte Handelspartner arabischer Staaten. Der Einfluss dieser Beziehungen wurde deutlich, als sich die arabischen Staaten während der jüngsten offiziellen Besuche von Vertretern der USA und Europas in Taiwan einseitig auf die Seite Pekings stellten. 

Pragmatische Balance 

Auch wenn die öffentliche Haltung gegenüber Russland und China mit der Politik der arabischen Regierungen übereinstimmt, ist es unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft zu einer strategisch-politischen Verschiebung hin zu China und Russland auf Kosten der USA und Europas kommt. 

Die Golfstaaten können es sich nicht einfach leisten, auf den militärischen und politischen Schutz der USA zu verzichten. Zudem sind die Armeen der meisten arabischen Staaten in hohem Maße von Waffenlieferungen aus den USA abhängig. Die Araber können weder auf den hochentwickelten technologischen Vorsprung des Westens noch auf die milliardenschwere arabisch-europäisch-amerikanische Handelsbilanz verzichten. Ebenso wenig können sie auf die beträchtliche finanzielle Unterstützung verzichten, die die Vereinigten Staaten und die EU den darauf angewiesenen arabischen Ländern über den Internationalen Währungsfonds zukommen lassen. 

Doch die arabischen Staaten werden ebenso pragmatisch wie realistisch handeln. Sie könnten ihre starke Abhängigkeit vom Westen allmählich lockern und versuchen, ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Allianzen zu diversifizieren – sei es mit Russland und China oder mit Nachbarländern wie Iran, Türkei und sogar Israel. Wie Henry Kissinger kürzlich nach der von China vermittelten Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran sagte, wird ein multipolarer Naher Osten "ein neues Spiel mit neuen Regeln“ sein. 

Kissingers Analyse stützt sich nicht nur auf das saudisch-iranische Abkommen zur Wiederaufnahme der Beziehungen, sondern auch auf andere wichtige regionale Veränderungen. Ägypten, die Türkei und Iran haben ihre Beziehungen neu geordnet. Fünf arabische Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate, Algerien und Bahrain, haben ihr Interesse bekundet, der BRICS-Gruppe beizutreten, zu der bereits China, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika gehören. Die BRICS-Staaten werden möglicherweise schon bald die wirtschaftliche Bedeutung der G7 übertreffen, was bei einigen Europäern Besorgnis auslöst

Arabische Staaten werden ihre Allianzen mit den Russland und China weiter vertiefen und daran arbeiten, eine Alternative zum westlichen Modell zu entwickeln. Die Herausforderung besteht für sie darin, vorsichtig vorzugehen, um den Westen nicht zu provozieren. 

Walid Al-Sheikh

© Carnegie Endowment for International Peace 2023

Übersetzt aus dem Englischen von Gaby Lammers 

Walid Al-Sheikh ist Journalist und politischer Analyst mit Sitz in Berlin. Folgen Sie ihm auf Facebook und Twitter unter @Walid_Alsheikh.