Der Sufismus ist nicht nur muslimisch   

Sufischrein von Mustafa Devati in Istanbul; Foto: Marian Brehmer
Sufischrein von Mustafa Devati in Istanbul; Foto: Marian Brehmer

Der Sufismus hat fließende Grenzen. Er ist, wie der Islam selbst, ohne seine spätantiken Wurzeln nicht denkbar. Seinerseits hat er wiederum den Hinduismus beeinflusst. Die sufische Lehre von der göttlichen Liebe existiert auch unabhängig vom Islam. Von Stefan Weidner

Von Stefan Weidner

Unter den vielen Facetten des Islam ist der Sufismus — man sollte über das Wort nicht streiten, es ist klar, dass sich dahinter keine geschlossene Ideologie verbirgt — vielleicht die geheimnisvollste und mächtigste. Oft wird der Sufismus als "islamische Mystik“ bezeichnet. Aber das greift zu kurz, zumal wenn man ihn mit der christlichen Mystik vergleicht. Im Christentum ist die Mystik ein marginales, vornehmlich von Einzelnen getragenes Phänomen geblieben. Der Sufismus spricht dagegen die Gläubigen in ihrer Breite an.

Er ist seit dem Mittelalter in großen, transnationalen Schulrichtungen organisiert. Diese jeweils auf eine charismatische Gründergestalt zurückgehenden Schulen haben das Islamverständnis der Mehrheit der Muslime über weite Strecken der Geschichte hinweg geprägt — und prägen es bis heute. Im Kult um die Heiligengräber, die wir überall in muslimischen Hemisphäre finden, außer auf der Arabischen Halbinsel, wird der Sufismus auch für Außenstehende (be)greifbar.

Diese "Heiligen“ waren zunächst lokal, bald auch übernational berühmte sufische Dichter, Prediger und Asketen, deren Gräber man besucht, um ihren Beistand zu erflehen. Oft wurden um diese Gräber herum Moscheen, religiöse Lehreinrichtungen und Stiftungen errichtet; viele von ihnen bestehen bis heute und sind eine Attraktion für Pilger und Touristen.



Der regelmäßige rituelle Besuch der Gräber und Schreine repräsentiert gleichsam die katholisch-volkstümliche, zuweilen von magischen Praktiken begleitete Seite des Islams. Der Salafismus und andere puritanische Strömungen im Islam erinnern dagegen eher an einen strengen Protestantismus. Sie verbieten den Gräberkult und andere "abergläubische“ Praktiken des Sufismus, verdammen sie als Vielgötterei und bekämpfen sie — zum Teil auch gewaltsam. Oft werden die Schreine von Selbstmordattentätern heimgesucht, besonders in Pakistan. Der Popularität des Sufismus hat das bis heute keinen Abbruch getan.

Historische Zeichnung des islamischen Mystikers Ibn Arabi; Foto: Arab48
Der Philosoph und Mystiker Ibn Arabi (1165 -1240) verkörpert die hochkulturelle, theologische Seite des Sufismus. Gleichzeitig gibt es am Grab von Ibn Arabi in einem Vorort von Damaskus auch einen volkstümlichen Gräberkult. Diese scheinbar widersprüchlichen Ausprägungen des Sufismus sind durch Kunst, Poesie und Musik eng miteinander verklammert.  

Sufismus hat viele Seiten

Den Sufismus umstandslos mit "Mystik“ gleichzusetzen ist aber auch deswegen problematisch, weil es die irrationale, esoterische Seite über Gebühr betont. Die hochkulturelle, spekulative, theologische Seite des Sufismus gehört ebenso dazu wie die volkstümliche mit ihrem Gräberkult. Und diese scheinbar widersprüchlichen Ausprägungen des Sufismus sind durch Kunst, Poesie und Musik eng miteinander verklammert.  

Der gemeinsame Nenner aller sufischen Bestrebungen, sei es des naiven Wunderglaubens oder der abstraktesten philosophischen Spekulation ist dabei die Begründung, Beschwörung einer Kommunikation, eines lebendigen Zusammenhangs zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, Diesseits und Jenseits, Individuum und Kosmos. Dieses schwer zu definierende Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird in der sufischen Kunst, Musik und Literatur jeweils neu gedeutet, inszeniert und dann in der Rezeption dieser Künste erfahren und erlebt. Ein weit überwiegender Teil der muslimischen Kunst insgesamt ist vom Sufismus geprägt und ohne ihn kaum verständlich.  

Der Sufismus will die Menschen nicht auf Abstand halten, ihnen Ehrfurcht einflößen, sondern sie mitnehmen, ihnen Zugänge zum Göttlichen und Heiligen eröffnen. Das gilt natürlich nicht nur für die Architektur, sondern auch für die Poesie und erst recht für die Musik. Religiöse Musik gibt es im Islam überhaupt nur im Rahmen des Sufismus, jenseits davon ist sie verpönt. Musik, Poesie, Heiligenverehrung, Philosophie und sogar Tanz gehen in Gestalt der sogenannten tanzenden Derwische des Mevlevi-Ordens aus der anatolischen Stadt Konya eine beispielhafte Verbindung ein, ja verschmelzen miteinander. Zurecht gelten sie bei uns als das Inbild des sufischen Islams.   

Dieser Derwish-Orden geht auf den sufischen Dichter und Gelehrten Djalal ad-Din Rumi zurück. 1207 in Balch im heutigen Afghanistan geboren, zog er in den Wirren des Mongolensturms mit seiner Familie nach Westen und starb 1273 in Konya. Seine Anhänger nannten ihn "Maulana“, Arabisch für "Unser Meister“, türkisch "Mevlana“ (daher der Name "Mevlevi“). Er schrieb freilich auf Persisch, nicht auf Türkisch, und es ist keine Übertreibung, ihn einen der größten mystischen Schriftsteller aller Zeiten zu nennen — was sich gleichermaßen auf die Qualität wie auf die Quantität seines Werks beziehen kann.  

Ekstase-Tanz im Innenhof des Schreins von Schah Dschamal: Foto: Marian Brehmer
Sufi-Zeremonie in einem Schrein in Lahore, Pakistan. "Der regelmäßige rituelle Besuch der Gräber und Schreine repräsentiert gleichsam die katholisch-volkstümliche, zuweilen von magischen Praktiken begleitete Seite des Islam,“ schreibt Stefan Weidner. "Der Salafismus und andere puritanische Strömungen im Islam erinnern dagegen eher an einen strengen Protestantismus. Sie verbieten den Gräberkult und andere 'abergläubische' Praktiken des Sufismus, verdammen sie als Vielgötterei und bekämpfen sie — zum Teil auch gewaltsam. Oft werden die Schreine von Selbstmordattentätern heimgesucht, besonders in Pakistan. Der Popularität des Sufismus hat das bis heute keinen Abbruch getan.“

"Höre auf die Geschichte der Rohrflöte, wie sie sich über die Trennung beklagt“, beginnt Rumis berühmte epische Dichtung "Masnavi“. Die Musik der Rohrflöte, die ja erst aus dem Schilf herausgeschnitten werden musste, steht symbolisch für die Vereinzelung des Menschen, seine Trennung vom Schöpfer. Und, so Rumi weiter: "Jeder, der weit von seinem Ursprung entfernt ist, sehnt sich danach, wieder mit ihm vereint zu sein.“ Der Ursprung ist natürlich Gott, beziehungsweise das als Gott vorgestellt All-Eine, das kosmische Ganze. 

In der sich während des Rituals steigernden Ekstase der tanzenden Derwische soll diese Trennung aufgehoben, die Verbindung zum Kosmos hergestellt werden. Die Drehungen der Derwische symbolisieren diese kosmische Verbindung, denn sie ist der Drehung der Gestirne um einen Mittelpunkt nachempfunden, so wie die Planeten um die Sonne kreisen. Was nach sufischer Lehre den Mittelpunkt (Gott) mit den ihn umkreisenden, von ihm angezogenen Einzelnen (den Planeten) verbindet, ist jedoch nichts anderes als die Liebe, die als die alles bewegende Kraft des Kosmos gedeutet wird.  

So erklärt es sich, dass die Dichter des Sufismus allesamt große Liebesdichter sind. Die Liebe zu einem anderen Menschen ist für sie immer auch und letztlich nur die auf ein irdisches Maß heruntergebrochene Version der Liebe Gottes zu den Menschen und der Liebe der Menschen zu Gott. Das eine wird durch das andere symbolisiert, weswegen Fragen, wie etwa ob der berühmte mittelalterliche persische Dichter Hafis in seinen Gedichten nun die Liebe zu Gott oder zu einem konkreten Menschen besingt, an der Sache vorbeigehen: Der sufische Dichter besingt stets beides, und zwar das Eine im und mit Hilfe des Anderen.  

Ursprung in der Spätantike 

Der Ursprung der sufischen Lehre, die die irdische Liebe als kosmische Kraft, ja als göttlichen Ursprung der Schöpfung begreift, ist in der Spätantike zu suchen und geht letztlich auf Platon zurück, der die Metaphysik der Liebe in vielen seiner Dialoge thematisiert hat. Die spätantiken Neuplatoniker, angefangen mit Plotin im 3. Jahrhundert n. Chr., haben diese Vorstellung dann in einen Zusammenhang mit ihrer Lehre vom "Einen“ gebracht, aus dem die Welt gleichsam ausgeflossen ("emaniert“) sein soll.



Im Zuge der Ausbreitung des Islam sind viele neuplatonische Schriften ins Arabische übersetzt worden. Sie haben die arabischen Philosophen nachhaltig beeinflusst; ebenso aber auch die Dichter und Denker des Sufismus. Möglicherweise stammt das Wort "Sufi“ sogar vom griechischen Wort für Weisheit ab, "Sophia“. Die Sufis wären dann die muslimischen Nachfahren der griechischen Sophisten und Philosophen (Philosoph heißt auf Arabisch, dem Griechischen nachempfunden, failasuf). Mit dieser Deutung der Etymologie von "Sufi“ konkurriert eine andere, die das Wort auf den arabischen Ausdruck für Wolle (suf) zurückführt. Die Erklärung dafür ist, dass viele Sufis sich in einen groben Wollmantel kleideten.  

Gott ist das "Eine“ 

Um zu verstehen, wie und warum das absolute Eine, das die muslimischen Philosophen als anderen Namen für Gott verstanden, mit der profanen, irdischen Erscheinungswelt zusammenhängt, haben schon die Neuplatoniker einen Vergleich mit der Liebe gezogen: Es ist das Begehren des höchsten Einen, beziehungsweise Gottes, geliebt und erkannt zu werden, das die Welt hervorbringt — ganz in der Art und Weise, wie auch Menschen gesehen und geliebt werden wollen und ihre eigenen Schöpfungen lieben.

Die tanzenden Derwische des Mevlevi-Ordens in der Türkei; Foto: Marian Brehmer
Die tanzenden Derwische des Mevlevi-Ordens aus der anatolischen Stadt Konya gelten bei uns zu Recht als das Inbild des sufischen Islam, schreibt Stefan Weidner. "Dieser Derwish-Orden geht auf den sufischen Dichter und Gelehrten Djalal ad-Din Rumi zurück. 1207 in Balch im heutigen Afghanistan geboren, zog er in den Wirren des Mongolensturms mit seiner Familie nach Westen und starb 1273 in Konya. Seine Anhänger nannten ihn 'Maulana', Arabisch für 'Unser Meister', türkisch 'Mevlana' (daher der Name "Mevlevi“). Er schrieb freilich auf Persisch, nicht auf Türkisch, und es ist keine Übertreibung, ihn einen der größten mystischen Schriftsteller aller Zeiten zu nennen — was sich gleichermaßen auf die Qualität wie auf die Quantität seines Werks beziehen kann.“



In diesem Sinn lautet ein unter Sufis weit verbreiteter Spruch, den Allah angeblich selbst über sich gesagt haben soll: "Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden. Deswegen schuf ich die Welt.“ 

Mit diesem Verweis auf Gottes Wunsch, von den Geschöpfen erkannt und geliebt zu werden, lösten die Sufis eines der Hauptprobleme der islamischen Theologie: Wie können die Gläubigen ein Verhältnis zu einem Gott entwickeln, der als absolut transzendent und unvergleichlich gilt? Ihre Antwort lautet: Mit Hilfe derselben kosmischen Kraft, die die Welt als Ausfluss aus dem Einen hervorgebracht hat, der Liebe, wie es die neuplatonischen Philosophen gelehrt hatten.  

Muslimische Kaufleute, die oft selbst einem sufischen Orden angehörten, sowie sufische Wanderprediger, Dichter und Sänger verbreiteten die Lehre von der göttlichen Liebe und des sufischen Islam bis in die entlegensten Winkel Afrikas und Asiens. Die überregionalen, ja globalen Netzwerke, die so geschaffen wurden, kamen dem Austausch von Waren ebenso zugute wie dem von Ideen, religiösen Praktiken und künstlerischen Ausdrucksformen.  

Hinduismus und Islam

Vor diesem Hintergrund haben sich auch Hinduismus und Islam in der mehr als ein halbes Jahrtausend währenden muslimischen Herrschaft in Nordindien wechselseitig beeinflusst — so sehr, dass man heute oft nicht mehr weiß, ob ein Heiliger oder Fakir, Asket, nun Muslim oder Hindu, Sufi oder Yogi gewesen ist, und er daher von Anhängern beider Religionen verehrt wird. Berühmt ist das Beispiel des Dichters Kabir aus Benares (gest. um 1500).



Nach seinem Tod stritten sich Hindus und Muslime um seinen Leichnam, denn beide reklamierten ihn für ihre eigene Religion. Als im Lauf des Streits, so berichtet die Legende, das Leichentuch von seinem Körper weggezogen wurde, lag darunter kein Toter, sondern nur ein Haufen frischer, duftender Blüten. Von Kabir stammen die Verse:  

Schätzte der Schöpfer die Kasten 

Wären wir mit dem Zeichen der Kasten auf der Stirn geboren. 

Wenn du sagst, du bist ein Brahmane, geboren von einer brahmanischen Mutter, 

Bist du anders geboren als andere? 

Und wenn du sagst, du bist ein Türke wie deine Mutter, 

Warum bist du nicht schon beschnitten geboren

 Stefan Weidner

 © Qantara.de 2022

Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt erschien von ihm die Literaturgeschichte: "1001 Buch. Die Literaturen des Orients“. Edition Converso 2022

 

 

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