Hintergrund: Innerstaatliche Konflikte in Algerien

Die Auseinandersetzungen zwischen der Protestbewegung "Hirak" und der Regierung um die Zukunft des Landes nach dem erzwungenen Rücktritt des Langzeitpräsidenten Bouteflika im April 2019 bestimmen das aktuelle Konfliktgeschehen in Algerien. Dadurch drohen alte Konflikte wieder aufzubrechen.

Von Luca Miehe

Algerien, das flächenmäßig größte Land Afrikas, befindet sich nach dem Sturz des Langzeitpräsidenten Abdelaziz Bouteflika (1937-2021) im April 2019 in einer fragilen Übergangsphase. Die Massenproteste wurden durch seine Ankündigung ausgelöst, eine fünfte Amtszeit anzustreben. Bouteflika hatte sich schon 2013 nach einem Schlaganfall aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und regierte das Land seitdem über ein Geflecht von Seilschaften in Politik, Wirtschaft, Militär und Geheimdienst.



Die "Hirak" genannte Protestbewegung (Hirak = Bewegung) fordert einen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik, eine Erneuerung der gesamten politischen Klasse und die Errichtung eines zivilen Staates.



Doch der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2019 und die neue Verfassung, die am 1. November 2020 in einem Referendum angenommen wurde, sprechen eher für eine Weiterführung der Bouteflika-Ära als für einen Aufbruch. Neuer Präsident wurde der 75-jährige Abdelmajid Tebboune, Minister und Premierminister unter Bouteflika. Der Urnengang wurde begleitet von massiven Protesten, die zur Annullierung des Abstimmungsprozesses in zahlreichen Provinzen führten.[1] Die neue Verfassung wurde zwar mit rd. 67 % angenommen, doch nach einem Boykottaufruf des Hirak beteiligten sich gerade einmal 24 % der Wahlberechtigten – bis zu diesem Zeitpunkt ein historischer Minusrekord.



Die neue Verfassung, die eine Fülle an kosmetischen Änderungen enthält, lässt die große Machtfülle des Präsidenten unangetastet; er ernennt den Premierminister, die Regierungsmitglieder, ein Drittel des Senats, Richter und die Verantwortlichen der Sicherheitsorgane (Henni-Moulaï 2020). Auch sind einige der von der Regierung angekündigten Reformen keineswegs neu. So war die Begrenzung der präsidentiellen Amtszeiten auf zwei Legislaturen bereits Teil der Verfassung von 2016; sie war allerdings nie umgesetzt worden.



Präsident Tebboune und seine Regierung stecken wegen den umstrittenen Wahlen, der völlig unzureichenden Verfassungsreform und der miserablen Wirtschaftslage in einer tiefen Legimitationskrise. Nachdem die Protestbewegung aufgrund der Covid-19-Pandemie vorübergehend in den digitalen Raum verbannt worden war, hat Anfang 2021 eine neue Mobilisierungsphase begonnen. Doch fehlt der Bewegung weiterhin eine erkennbare Führungsstruktur, welche die Zielkonflikte im Innern bearbeiten und die Forderungen nach außen vermitteln könnte. Gleichzeitig nehmen Medienzensur und Verhaftungen von Aktivistinnen und Journalisten zu.[2]



Bei den Parlamentswahlen am 12. Juni 2021 versuchte die neue Regierung, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Insbesondere von einer aktiven Regionaldiplomatie im Sahel und im benachbarten Libyen erhofft sie sich internationale Aufwertung.

Auch hier spielt das Militär eine herausgehobene Rolle. Ihm wird in der neuen Verfassung erstmals das Recht auf "die Entsendung von Einheiten" ins Ausland eingeräumt und so mit der traditionellen Militärdoktrin der Nichteinmischung gebrochen. Der Kurswechsel wird von Regierung und Militär vor allem mit der Notwendigkeit einer stabilen und starken Führung und der "terroristischen Bedrohung" durch die regionalen Ableger von IS und al-Qaida (AQIM [3]) in Mali und anderen Sahel-Staaten begründet.[4] Die deutliche Kritik an der "Kolonialpolitik" des benachbarten Kontrahenten Marokko in der Westsahara zielt darauf ab, den Rückhalt von Präsident und Regierung in der Bevölkerung zu stärken.

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