Abkehr von der Sprache der Kolonialherren

Immer mehr Ministerien in Algerien geben bekannt, in Zukunft auf das Französische zu verzichten. Sie reagieren damit auf eine Stimmung in der Bevölkerung, handeln aber auch aus Kalkül. Von Dunja Ramadan

Von Dunja Ramadan

Da sitzt die algerische Kulturministerin Wafaa Chaalal im Fernsehen und ringt nach Worten. Das Gespräch ist auf Arabisch - und es ist kein Geheimnis, dass Algerier dann gerne ins Französische wechseln oder zumindest so viele französische Vokabeln integrieren, dass sie das Arabische schnell überlagern. Die ägyptische Moderatorin spricht die Ministerin auf den starken Einfluss des Französischen in ihrem Heimatland an. Sie kenne viele Algerier, die mehr Französisch als Arabisch sprechen, sagt sie, dabei immer freundlich lächelnd.

Die Ministerin begründet das mit dem starken französischen Einfluss im Bildungsbereich. Dann sagt sie: "Wir denken auf Französisch und sprechen Arabisch. Deshalb fallen uns einige Worte nicht so schnell ein." Die Moderatorin versteht nicht ganz, versucht zu korrigieren: "Ihr denkt auf Arabisch und sprecht auf Französisch." Nein, umgekehrt, sagt die Kulturministerin. So richtig glauben will ihr die Moderatorin das nicht. Ihre nächste Frage, inwieweit sich das französische vom arabischen Denken unterscheide, muss sie streichen. Ist der Ministerin zu heikel.

Das Gespräch löste eine Welle von Kommentaren in den sozialen Netzwerken aus. Der Tenor vieler Algerier lautete: Chaalal spreche nur für die frankophone Elite, die sich gegenseitig die Posten zuschiebe und nicht für das algerische Volk, das Arabisch spreche. Ein Kommentar lautete: "Wenn sie die Identität eines Volkes töten wollen, töten sie zuerst seine Sprache" oder "Ihre Worte sind wahr, alle Beamten sind französiert, aber wir akzeptieren die Wahrheit nicht, wir leben wie ein Strauß, der den Kopf in den Sand steckt."

Diese Grundstimmung in der Bevölkerung wird zunehmend auch in der Politik erkannt: In den vergangenen Monaten verbannten mehrere Ministerien die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht aus der offiziellen Korrespondenz. Im vergangenen Oktober führten das Jugend- und Sportministerium, das Berufsbildungsministerium und das Ministerium für Arbeit, Beschäftigung und soziale Sicherheit stattdessen das Arabische verpflichtend ein. Anfang April folgte nun das Kulturministerium, das mittlerweile von Soraya Mouloudji geleitet wird. Die Ministerinnen und Minister reagieren damit auch auf die Spannungen zwischen Algier und Paris im vergangenen Herbst. Zumindest offiziell.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede zum 60. Jahrestag des Waffenstillstands im Algerienkrieg. (Foto: Gonzalo Fuentes/AP Photo/picture alliance)
Diplomatische Krise zwischen Frankreich und Algerien: Die ehemalige französische Kolonie war im letzten Oktober verärgert über Aussagen, die die Tageszeitung "Le Monde" dem Hausherrn im Élysée-Palast zugeschrieben hat. Präsident Macron hatte von einer neuen "offiziellen" Geschichtsschreibung nach der Unabhängigkeit Algeriens gesprochen, die nicht auf Wahrheiten beruhe, sondern durch einen "Diskurs des Hasses" auf Frankreich geprägt sei. Die Regierung in Algier rief den Botschafter Mohamed Antar-Daoud zu "Konsultationen" nach Algier zurück. Zur Begründung erklärte das Präsidialamt, Algerien verbitte sich "jede Einmischung" in seine inneren Angelegenheiten. Die "nicht dementierten" Äußerungen Macrons seien "unverantwortlich".

Emmanuel Macron fragte, ob Algerien vor der Kolonialzeit je eine Nation gewesen sei

Damals sorgten die Aussagen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Le Monde für eine diplomatische Krise zwischen den beiden Staaten. So warf Macron Algeriens "politisch-militärischem System" vor, das eigene Versagen immer noch durch den Kolonialismus zu entschuldigen. "Die algerische Nation zehrt seit 1962 von einer Erinnerung, in der es heißt: Frankreich ist das Problem", wird Macron in der französischen Zeitung zitiert. Außerdem - und das sorgte für einen Aufschrei in Algier - stellte er infrage, ob Algerien vor der Kolonialzeit je eine Nation gewesen sei.

Bereits 1830 besetzten französische Truppen Algerien und erklärten das nordafrikanische Land zur französischen Provinz. Ein im Mai 1945 von französischen Kolonialtruppen begangenes Massaker an Zehntausenden Algeriern in Sétif führte zum Erstarken der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. 1954 begann unter Führung der FLN (Front de Libération Nationale) der sogenannte Algerienkrieg gegen die französische Kolonialmacht, der zur Erlangung der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1962 führte. Der Befreiungskampf wurde von französischen Truppen brutal unterdrückt, Hunderttausende Algerier wurden dabei getötet.

Die Regierung in Algier rief im vergangenen Herbst also ihren Botschafter zurück und stoppte die Überflugrechte für französische Militärjets über der Sahelzone. Macron ließ kurze Zeit später über einen Berater mitteilen, dass er die "Polemik" und die "Missverständnisse" bedauere. Anfang Dezember vergangenen Jahres reiste dann der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian nach Algerien. Nach drei Monaten war die diplomatische Krise überwunden. Doch an der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des Waffenstillstands im Algerienkrieg nahm Ende März kein einziger offizieller Vertreter der algerischen Regierung teil. Macron warb für weitere Versöhnung zwischen Frankreich und der ehemaligen französischen Kolonie.

Die algerische Delegation am 18. März 1962 in Évian, wo das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde. (Foto: London Express/dpa/picture-alliance)
Notwendige Aufarbeitung der schmerzhaften Vergangenheit: Zum 60. Jahrestag des Waffenstillstands im Algerienkrieg hat Emmanuel Macron für weitere Versöhnung zwischen Frankreich und Algerien geworben. Geschehenes Unrecht müsse anerkannt werden, sagte er. Bei der Gedenkfeier mit 200 Gästen waren auch ehemalige Kämpfer der gegnerischen Seiten anwesend. Macron betonte, er wolle die verschiedenen Sichtweisen auf den Krieg präsentieren und es so ermöglichen, auf dem Weg der Aufarbeitung weiter voranzukommen. "Es wird unvermeidbar noch Momente der Gereiztheit geben, es wird noch Gefühle von Ungerechtigkeit geben, aber wir werden es schaffen." Doch an der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des Waffenstillstands im Algerienkrieg nahm Ende März kein einziger offizieller Vertreter der algerischen Regierung teil.

Doch vergessen sind Macrons umstrittene Äußerungen in Algier nicht, sagt der algerische Politologe Zine Labidine Ghebouli der Süddeutschen Zeitung. Der 26-Jährige forscht an der Universität Glasgow zu euro-mediterranen Beziehungen. "Macrons Äußerungen haben eine alte sprachliche und soziokulturelle Rivalität angeheizt und zu einem verstärkten postkolonialen Skeptizismus geführt," sagt er. Den Vorstoß der neuen Kulturministerin bezeichnet er aber vor allem als "traditionellen Kampf ihres konservativen Lagers gegen die frankophone Kulturelite" sowie als "PR-Strategie, die aus Macrons Äußerungen Kapital schlagen will, um Popularität zu gewinnen". Algerien erlebe gerade einen tiefgreifenden sozialen Wandel, nach dem, so glaubt Labidine, Franzosen nicht mehr dieselben Privilegien und denselben elitären Status genießen werden.

Vor allem die Jüngeren entfernen sich von der französischen Sprache

Diese antifranzösische Stimmung im Land nahm in den vergangenen drei Jahren zu, sagt Labidine. Sie stehe auch in Zusammenhang mit der Protestbewegung Hirak, die eine völlige Neuordnung des seit der Unabhängigkeit Algeriens bestehenden politischen Systems fordert. In den vergangenen drei Jahren konnte die Bewegung Hunderttausende Demonstranten mobilisieren, um erst den Dauerpräsidenten Abdelaziz Bouteflika zu stürzen und dann gegen das bis heute herrschende politische Geflecht aus Militär, Geheimdiensten und Industriemagnaten anzukämpfen.

Der Ende 2019 gewählte Präsident Abdelmadjid Tebboune gilt vielen Algeriern als Anhänger des alten Systems. Antifranzösische Slogans und Plakate waren während der Demonstrationen immer wieder zu hören und zu sehen - Slogans wie "Wo immer Frankreich ist, kommt die Zerstörung" oder "Macron, geh, du bist im Land der Märtyrer nicht willkommen".

Proteste gegen die Regierung in Algier am 21.02.2020. (Foto: Reuters)
Entfremdung von der Sprache der Kolonialherren: Vor allem die junge Generation entfernt sich zunehmend von der französischen Sprache. Fast zwei Drittel der Bevölkerung Algeriens sind unter 35 Jahre alt. Obwohl es erhebliche Unterschiede je nach Region und Klasse gebe, fühlen sich viele junge Algerier heute im Vergleich zu den Generationen ihrer Eltern oder Großeltern weniger sicher im Umgang mit der französischen Sprache. Diese Entfremdung steht auch in Zusammenhang mit der Protestbewegung Hirak, die seit zwei Jahren eine völlige Neuordnung des seit der Unabhängigkeit Algeriens bestehenden politischen Systems fordert. Antifranzösische Slogans und Plakate waren während der Demonstrationen immer wieder zu hören und zu sehen.

Während der Proteste zogen die Demonstranten immer wieder Parallelen zwischen ihren Forderungen und dem antikolonialen Kampf, sagt Andrew Farrand der SZ. Er ist Autor des Buches "The Algerian Dream: Youth and the Quest for Dignity", das 2021 erschien. Vor allem die junge Generation entferne sich zunehmend von der französischen Sprache, so Farrand. Fast zwei Drittel der Bevölkerung Algeriens sind unter 35 Jahre alt. Farrand lebte von 2013 bis 2020 in Algerien, um zu sehen, wie "die nächste Generation im schlafenden Riesen Nordafrikas" tickt, wie er in seinem Buch schreibt. Algerien ist flächenmäßig das größte Land Afrikas. Obwohl es erhebliche Unterschiede je nach Region und Klasse gebe, so Farrand, fühlen sich viele junge Algerier heute im Vergleich zu den Generationen ihrer Eltern oder Großeltern weniger sicher im Umgang mit der französischen Sprache.

Algerische Unternehmer beschweren sich häufig darüber, dass sie keine jungen Mitarbeiter finden, die richtig Französisch schreiben oder sprechen können, erzählt Farrand. Dazu kommt: "Die jungen Leute wachsen in einer Online-Welt auf. Englisch hat eine neue Bedeutung erlangt, und Französisch bekommt zum ersten Mal richtig Konkurrenz." Dieser Trend zeige sich auch in anderen Bereichen. Als die führende französischsprachige Zeitung Liberté vergangene Woche nach dreißig Jahren eingestellt wurde, trauerte nur eine frankophone Minderheit um sie.

Nur junge Algerier, die mit einer Auswanderung nach Frankreich liebäugeln, können von dieser Entwicklung ausgenommen werden. Wobei immer mehr von ihnen wissen, dass das Leben für algerische Migranten in Frankreich schwierig sein kann. Vor allem, wenn die rechtsextreme Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte. "Wenn Le Pen siegt, wäre das für den französischen Einfluss in Algerien katastrophal und würde den laufenden Prozess der Abkehr von der französischen Sprache beschleunigen", glaubt Labidine.

Dunja Ramadan

© Süddeutsche Zeitung 2022