Auf dem Weg mit Rumi  

Rumis Gedichte sind heute weltweit populär, werden aber meist ihrer islamischen Symbolik entledigt. Dabei verbirgt sich hinter den Versen die große islamische Mystik. Was von ihr noch übrig ist und welche Formen sie annimmt, hat Marian Brehmer über zehn Jahre lang ergründet. Von Lisa Neal

Von Lisa Neal

"Was die Propheten und Mystiker in ihren Büchern erzählt haben, hat nur einen Zweck, nämlich dich zu dir selbst zu erwecken“, sagt Besmel, ein Derwisch aus Nosratabad im Iran. Heute scheint es einfacher, sich gegen einen Glauben zu entscheiden, als sich einem spirituellen Weg hinzugeben. Zumindest für viele Menschen in Nordwesteuropa, wie sich an den zunehmenden Kirchenaustritten und dem Nachwuchsmangel in anderen Religionsgemeinschaften zeigt.  

Sich für einen spirituellen Weg zu entscheiden verlangt nach Offenheit für etwas Größeres und nach einer intensiven Suche. Diese Suche führt durch einen Überfluss an Lifestyle-Angeboten, die sich zwar gut anfühlen mögen, dabei jedoch oft oberflächlich bleiben. Sie führt durch festgefahrene Institutionen, in denen allzu oft struktureller Konservatismus zum Maßstab des guten Lebens wird. Wie kann die Suche nach der Essenz gelingen? Der Journalist und praktizierende Sufi Marian Brehmer erzählt in seinem Buch "Der Schatz unter den Ruinen“ von seinem Suchen und Finden. Dafür begibt er sich auf die Spuren von Rumi, dem großen Mystiker des Sufismus.  

Der islamische Gelehrte und Dichter Dschalaluddin Rumi wurde 1207 in der zentralasiatischen Region Chorasan geboren, sein Leben führte ihn durch Afghanistan, Iran, Syrien und in die Türkei, wo er 1273 in Konya starb. Über einen Zeitraum von zehn Jahren bereiste Brehmer immer wieder diese vier Länder. Von seinen Reisen entlang Rumis Leben handelt dieses Buch. Brehmer leitete die Frage, was von der spirituellen Kultur des Sufismus heute noch übrig ist. Seine Antwort: Es wird viel mehr davon gelebt als in die internationale Berichterstattung durchdringt, die sich bei diesen Ländern auf Negativschlagzeilen fokussiert.

Afghanische Sufis beim Gebet; Foto: picture-alliance/AP Photo/Masso
In Balch, wo Rumi aller Wahrscheinlichkeit nach geboren wurde, wird nicht mehr viel Aufhebens um den Mystiker gemacht. Die entbehrungsreichen Kriegsjahre haben den Sufismus vielerorts verdrängt. Was Brehmer an sufistischen Praktiken noch vorgefunden hat, gibt es immer weniger in Afghanistan. Orthodoxie und Fanatismus verbieten sufistische Praktiken.

In Afghanistan verboten durch Orthodoxie und Fanatismus

Das Buch beginnt in Afghanistan. In Balch, wo Rumi aller Wahrscheinlichkeit nach geboren wurde, wird nicht mehr viel Aufhebens um den Mystiker gemacht. Die entbehrungsreichen Kriegsjahre haben den Sufismus vielerorts verdrängt. Eine besondere Begegnung findet mit dem Dichter und Sufi-Meister Haydari Wujudi statt. Brehmer trifft ihn vier Monate vor dessen Tod. "Menschen wie Wujudi wirken weniger durch ihre Worte, sondern durch die hinter ihren Worten liegende Präsenz.“



Mit Wujudi und seinen Seminaristen spricht er über die Gedichte Rumis. Dessen Hauptwerk ist keineswegs eine konkrete Anleitung, sondern es besteht aus einer Sammlung von Gedichten. Das Masnawi genannte Lehrwerk Rumis besteht aus sechs Büchern mit knapp 26 000 Versen und lässt seine subtilen Weisheiten nur langsam erspüren. Der islamische Gelehrte Rumi hat weniger versucht, durch Argumente zu überzeugen, sondern durch Gedichtverse die Herzen zu öffnen und die Menschen zu Liebenden zu machen. Denn, so Wujudi, erst die "Liebe führt den Menschen in wirkliche Freiheit“.

Was Brehmer noch vorgefunden hat, gibt es immer weniger in Afghanistan. Orthodoxie und Fanatismus verbieten sufistische Praktiken. Ähnliches gilt für Brehmers Erfahrungen in Syrien. Hier lernt er eine Sufi-Gemeinde kennen, deren Leben durch den Krieg zerstört wurde. Für Brehmer ist die Reise nach Syrien 2009 seine erste Reise in den Orient. Hier begegnet er gelebter muslimischer Spiritualität und wohnt für kurze Zeit in der (heute zerstörten) Al-Adiliyah Moschee in Aleppo. Er darf am dhikr, dem rhythmischen Rezitationsritual, teilnehmen:  

"Wir stehen in drei Kreisen. Hand in Hand mit meinen Nachbarn und hundert weiteren Männern wiege ich mich immer schneller zum Rhythmus der Rezitation… Die Formel `Lā illaha il Allah‘ – die Verneinung von Alles-außer-Gott – zieht mich hinein ins Einheitserlebnis.“ 

Innerlich still und zurückgezogen, äußerlich mitten der Gesellschaft  

Im Iran und in der Türkei, den weiteren Ländern auf Brehmers Reise, sind die Sufis ebenfalls bedrängt. Und doch findet der mystische Islam hier mehr Raum, um sich auszudrücken. 

Tanzende Derwische aus dem Mevelevi-Orden in Istanbul; Foto: AP
Tanzende Derwische in Istanbul: Teilweise ist dieser spirituelle Tanz zu einem Spektakel für Touristen verkommen, so wie die Rumi-Gedichte heute zumeist ihrer islamischen Symbolik entledigt sind, wie Marian Brehmer kritisiert. Das sei auf Übersetzungen zurückzuführen und darauf, dass man dem Islam aufgrund des einseitigen Images in der Welt abspräche, so jemanden wie Rumi hervorzubringen. "Indem wir ihn zu einem säkularen Humanisten erklären, verschleiern wir den Blick auf den echten Rumi und verbauen uns einen tieferen Zugang zu seinen Lehren.“ Das ist eine deutliche Absage an eine reine Wohlfühl-Spiritualität. 

Im Iran nimmt Brehmer an einem Kurs über Rumis Masnawi teil, das im Original auf Persisch gedichtet wurde. Brehmer ist sich ab da sicher: Das ist es, was er gesucht hat, die transformative Kraft der Verse trifft ihn im Innersten. Er lernt unter anderem den Derwisch Besmel kennen und besucht ein geheimes Sufi-Treffen in einem Nobelviertel von Teheran. Rumis Gedichte erfreuen sich großer Beliebtheit im Iran, aber die ernsthaft praktizierenden Sufi-Orden müssen sich im Untergrund bewegen. Dass das Masnawi gelesen wird, könne als Zeichen dafür gedeutet werden, dass viele Iraner müde sind vom ideologisierten Islam. Es hat aber auch den Grund, dass Dichtung eine bedeutende Rolle im iranischen Selbstverständnis spielt. 

Das Buch schließt, wie Rumis Leben, in der Türkei, wo Brehmer inzwischen lebt. Dort trifft er auf Sufi-Praktizierende wie Hayat Nur Artıran, eine der wenigen Frauen, die einen Sufi-Orden leiten. In Konya traf Rumi auf seinen spirituellen Meister und Gefährten Schams-e Tabrizi. Erst durch den Abschiedsschmerz von ihm (Schams-e Tabrizi verschwand eines Tages) sei Rumis Herz so sehr geöffnet worden, dass er sich der unendlichen Einheit hingeben und das Masnawi dichten konnte.

Die Rumi-Gedichte aber, wie sie heute überall auf der Welt kommerziell kursieren, sind zumeist ihrer islamischen Symbolik entledigt, kritisiert Brehmer. Das sei auf Übersetzungen zurückzuführen und darauf, dass man dem Islam aufgrund des einseitigen Images in der Welt abspräche, so jemanden wie Rumi hervorzubringen. "Indem wir ihn zu einem säkularen Humanisten erklären, verschleiern wir den Blick auf den echten Rumi und verbauen uns einen tieferen Zugang zu seinen Lehren.“ Das ist eine deutliche Absage an eine reine Wohlfühl-Spiritualität.  

Der Sufismus wird lebendig durch die Vielfalt der Menschen, die ihn praktizieren. Die Stärke des Reiseberichts ist, diese Diversität spürbar zu machen. Brehmer gelingt ein klischeefreies, erzählendes Sachbuch über Orte, die es heute zum Teil so nicht mehr gibt und über Begegnungen, die für viele nicht zugänglich sind. Gleichzeitig ist das Buch eine leichte Einführung in den Sufismus. Der Autor legt seine äußere und innere Reise zusammen und gibt somit eine mögliche Antwort darauf, wie ein spirituelles Leben erwachen kann. 

Lisa Neal



© Qantara.de 2022

Marian Brehmer, Der Schatz unter den Ruinen. Meine Reise mit Rumi zu den Quellen der Weisheit, Verlag Herder 2022