Eine Mauer zwischen Arm und Reich

Ägypten steckt in einer tiefen Wirtschafts-, Währungs- und Zahlungsbilanzkrise. Doch der Bau- und Immobilienboom geht trotz sozialer Schieflage und leeren Staatskassen ungebremst weiter und wird zu einem erheblichen Anteil durch milliardenschwere Krediten aus dem Ausland und dem Ausverkauf von Staatsbesitz getragen.
Ägypten steckt in einer tiefen Wirtschafts-, Währungs- und Zahlungsbilanzkrise. Doch der Bau- und Immobilienboom geht trotz sozialer Schieflage und leeren Staatskassen ungebremst weiter und wird zu einem erheblichen Anteil durch milliardenschwere Krediten aus dem Ausland und dem Ausverkauf von Staatsbesitz getragen.

Mit Hochdruck lässt Ägyptens Militärregime landesweit Straßen, Nahverkehrsmittel und Industrie modernisieren und eine luxuriöse Verwaltungshauptstadt für die Oberschicht errichten. Doch der Bauboom ist auf Pump finanziert und treibt Ägypten weiter in die Schuldenfalle. Von Sofian Philip Naceur

Von Sofian Philip Naceur

Manchmal sind es Wahlprogramme durchaus wert, aufmerksam gelesen zu werden. Nachdem sich Ägyptens früherer Armeechef Abdel Fattah Al-Sisi im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2014 lange dagegen gesträubt hatte, ein offizielles Wahlprogramm zu veröffentlichen, tauchte kurz vor dem Urnengang doch noch ein Dokument auf, in dem der Ex-General seine "Vision“ für Ägyptens Zukunft darlegte. Und dieses heute nur noch in Onlinearchiven auffindbare Wahlprogramm hat es in sich.

Nur wenige Tage vor der Abstimmung versprach der seit seinem blutigen Putsch gegen die Regierung von Ex-Präsident Mohamed Mursi 2013 mit eiserner Faust regierende Al-Sisi nicht nur den Bau von 20.000 neuen Schulen und gigantische Landgewinnungsprojekte, sondern auch die Errichtung von 22 neuen Industriestädten, 25 Touristenclustern, acht Flughäfen, drei Häfen und die massive Erweiterung des Großraum Kairos in Richtung Golf von Suez.



Was zunächst wie eine unrealistische Aufzählung überdimensionierter Wahlkampfversprechen anmutete, entpuppte sich aber als fast adäquate Ankündigung der seitdem von Al-Sisi verfolgten Modernisierungspolitik.

Das Land gleicht seither einer Großbaustelle. Baukräne und Betonmischer sind im Großraum Kairo, in Alexandria, entlang der Mittelmeerküste, dem Nildelta, in Oberägypten oder auf der Sinai-Halbinsel allgegenwärtig. Neue Wohnsiedlungen, Brücken, Hotels und Luxusimmobilien sprießen ebenso wie Pilze aus dem Boden wie Industriezonen und modernste Nahverkehrsinfrastruktur.

Mehr als 7000 Kilometer Straßen und Autobahnen sollen seither gebaut oder erneuert worden sein. Während in den Wüsten Südägyptens und westlich des Nildeltas riesige Landgewinnungs- und Agrarprojekte angelegt werden, hält Al-Sisi an der eigentlich als gescheitert geltenden Politik der Retortenstädte konsequent fest und lässt im Großraum Kairo, in Oberägypten und an der Mittelmeerküste eine neue Wüstensiedlung nach der anderen errichten. Ganze 37 neue Städte seien nach Regierungsangaben derzeit in Planung, 17 davon bereits im Bau.

Geplante Autobahn quer durch Kairos Totenstadt; Khaled Destouki/AFP
Bau einer Autobahn mitten durch die historische Kairoer Totenstadt, einem der größten Friedhöfe in der Stadt. Dazu pflügten 2020 Bulldozer alte Hütten und Grabkammern um – ungeachtet der Proteste von Anwohnern und Unesco. Menschen, die sich die horrenden Kairoer Mieten nicht leisten können, hatten hier ein Zuhause gefunden und wurden massenhaft vertrieben. Die Modernisierungspolitik des Regimes geht rücksichtslos gegen das kulturelle Erbe und gegen die verarmten Massen in Ägypten vor.

Al-Sisis neue Verwaltungshauptstadt

Vor allem eine dieser neuen Retortenstädte wird dabei mit unerbittlicher Rückendeckung seitens Militärführung, Staatsapparat und privater Immobilienindustrie vorangetrieben. Seit 2015 entsteht östlich der wohlsituierten Kairoer Gated Communities New Cairo, Tagammua El-Khamis und Madinaty eine neue Verwaltungshauptstadt für 6,5 Millionen Menschen, die New Administrative Capital (NAC), Al-Sisis mit Abstand wichtigstes Prestigeprojekt.



Ein neues Regierungsviertel ist ebenso bereits fertiggestellt wie ein neuer Flughafen, ein vom deutschen Siemens-Konzern gebautes Gaskraftwerk, ein Hotel- und Konferenzkomplex, mehrere Wohn- und Villenviertel, eine Moschee, eine koptische Kathedrale und hunderte Kilometer Straßen.

In atemberaubendem Tempo errichtet eine chinesische Staatsfirma zudem seit 2017 einen neuen Geschäfts- und Bankenbezirk mit 20 Hochhaustürmen im Herzen der neuen Hauptstadt. Während die ersten Wolkenkratzer Mitte 2022 fertiggestellt worden sein sollten, werden derzeit fieberhaft die letzten Arbeiten an zwei Zugprojekten vollendet, die die NAC mit der Kairoer Innenstadt und dem Nahverkehrsnetz der Millionenmetropole verbinden sollen.



Der Bau neuer Sport- und Kulturstätten geht ebenso rasch voran wie die Errichtung des Octagon, des südwestlich der Hauptstadt gelegenen neuen Verteidigungsministeriums, dessen astronomische Größe sämtliche zuvor vorangetriebenen Regierungsbauten meilenweit in den Schatten stellt.

Pläne zum Bau einer neuer Verwaltungshauptstadt liegen dabei bereits seit den 1960er Jahren auf dem Tisch. Nachdem das Regime von Präsident Gamal Abdel Nasser bereits damals mit der Verlegung von Regierungsinstitutionen in das zu der Zeit am östlichen Stadtrand gelegene Nasr City liebäugelte, begann sein Nachfolger Anwar El-Sadat in den 1970ern gar mit der Verlegung eines Ministeriums in die rund 50 Kilometer nordwestlich von Kairo gelegene Satellitenstadt Sadat City.



Doch das Projekt wurde abgebrochen und erst in den 2000ern von Ex-Präsident Hosni Mubarak in modifizierter Form abermals aufgegriffen. Bevor Mubarak aber konkrete Schritte in diese Richtung unternehmen konnte, wurde sein Regime von der Revolution 2011 aus dem Amt gejagt.

Eine Festung für die Staatseliten

Während sich zwischen 2011 und 2013 die Ereignisse im Land förmlich überschlugen, bereitete sich das hinter den Kulissen weiterhin die Fäden ziehende Militär bereits auf die Zeit nach Ägyptens demokratischer Übergangsphase vor und legte zügig nach Al-Sisis blutiger Machtübernahme 2013 den Grundstein für die langfristige Absicherung der Militärherrschaft. Mit Polizeigewalt, Staatspropaganda und einer vielfältigen Palette an Repressalien wurden die alten Machtverhältnisse im Land rasch restauriert.



Doch der heute wieder allmächtige Militärapparat zog seine Lehren aus dem Volksaufstand, der sich aus Sicht der Eliten auf keinen Fall wiederholen darf, und verlegte 2016 das zuvor in unmittelbarer Nähe zum Tahrir-Platz – dem Symbol der Revolte von 2011 – gelegene Innenministerium an den Stadtrand nach New Cairo.



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Mit der eingemauerten und von einer Vielzahl an Oberschichtsvororten umgebenen neuen Hauptstadt geht das Regime gar noch einen Schritt weiter und errichtet eine regelrechte Festung für die Staats-, Militär- und Gesellschaftseliten, die hier im Falle eines neuen Aufstandes den Sturm auf Ägyptens Straßen in aller Ruhe aussitzen können.



Das gigantische Ausmaß der NAC ist auch deshalb keineswegs ein Symbol für die Stärke des Al-Sisi-Regimes, sondern vielmehr ein Zeichen der Schwäche, zeigt sich mit dem Projekt doch deutlicher als je zuvor, wie sehr sich Ägyptens Elite vor einem neuen Aufstand der Einkommensschwachen fürchtet.

Auf Pump finanzierter Bauboom

Derweil steckt Ägypten erneut in einer tiefen Wirtschafts-, Währungs- und Zahlungsbilanzkrise. Die durch Corona-Pandemie und Russlands Einmarsch in die Ukraine ausgelöste Kapitalflucht aus Ägypten hat die Währungsreserven einbrechen lassen, ein neues Kreditabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds steht kurz vor dem Abschluss. Doch der Bau- und Immobilienboom geht trotz sozialer Schieflage und leeren Staatskassen ungebremst weiter und wird zu einem erheblichen Anteil durch milliardenschwere Kredite aus dem Ausland und dem Ausverkauf von Staatsbesitz getragen.

Sowohl der Bau des Geschäftsbezirks in der NAC als auch die beiden Eisenbahnprojekte, die die neue Hauptstadt mit Kairo verbinden, werden mit Krediten aus China und Frankreich abgesichert. Ein von der russischen Staatsfirma Rosatom gebautes Atomkraftwerk am Mittelmeer, das 2000 Kilometer lange und unter anderem von Siemens zu errichtende Hochgeschwindigkeitszugnetz sowie der Bau neuer Metrolinien in Kairo und mehrere Wasser- und Abwasserprojekte werden ebenfalls auf Pump finanziert. Eine neue Studie der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik zeigt derweil unmissverständlich, wie umfassend Ägyptens Auslandsverschuldung seit 2013 angewachsen ist.

Der "gut choreographierte Mix aus Anreizen, Drohungen und Täuschung“ habe es dem präsidialen Machtzentrum erlaubt, immer neue Schulden aufzunehmen, heißt es in der Studie, die eindringlich vor einem Staatsbankrott warnt. Während der Schuldendienst erhebliche Teile des Staatsbudgets auffrisst, werden die Kosten für Al-Sisis auf die Bedürfnisse der Vermögenden zugeschnittenen Modernisierungspolitik auf die Bevölkerungsmehrheit abgewälzt, deren Kaufkraft durch Inflation und Währungsabwertung immer weiter sinkt. Doch Al-Sisis elitäre Baupolitik ist riskant. Frische Kredite fließen bisher zwar weiter, doch in Ägyptens Gesellschaft rumort es lautstark.

Sofian Philip Naceur

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