Erinnerung an die kulturelle Vielfalt Syriens

Der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa erzählt in seinem Roman „Keiner betete an ihren Gräbern“ die jüngere Geschichte Aleppos. Joseph Croitoru stellt den Roman vor.

Von Joseph Croitoru

Manches belletristische Werk kann, auch wenn es nicht unbedingt in der Absicht des Autors liegt, angesichts der Zeitläufte erstaunliche Brisanz gewinnen. So auch der jüngste, ursprünglich 2019 erschienene Roman des syrischen Schriftstellers Khaled Khalifa, „Keiner betete an ihren Gräbern“, der eine vergessene Ära in der Geschichte Aleppos heraufbeschwört und jetzt in vorzüglicher Übersetzung durch Larissa Bender auf Deutsch vorliegt.

Die einst pulsierende multiethnische und multikulturelle Stadt, im syrischen Bürgerkrieg vor allem auch durch russische Bomben zu großen Teilen in Schutt und Asche gelegt, ist zum Schreckenssymbol einer unbändigen Zerstörungswut geworden, die sich nun in der Ukraine entlädt: Sucht man heute im Internet nach Aleppo, landet man schnell bei Mariupol.

Die traditionsreiche syrische Stadt und ihre Umgebung hatten neben Blütephasen schon im neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts turbulente und destruktive Zeiten erlebt. Khalifa lässt sie wieder aufleben, indem er sein Werk um mehrere dramatische Geschehnisse – rein erfundene, wie er in Interviews mit arabischen Zeitungen betont hat – komponiert, die jeweils als Ausgangspunkt der verschiedenen, sich zeitlich voneinander absetzenden Romanabschnitte dienen.

Im Kern geht es in dieser sich durch Vor- und Rückwärtsbewegungen in der Zeit – hauptsächlich zwischen 1881 und 1951 – entfaltenden Erzählung um die Lebens- und Liebesgeschichten von etwa einem halben Dutzend Personen, deren Verwandten und Nachkommen. Die Erzählstränge verweben sich so häufig, wie sie sich lösen, etliche Nebenfiguren betreten nur kurz die Bühne, um dann meist ganz zu verschwinden.

Erzählung von blühenden, turbulenten und gänzlich fiktiven Geschehnissen bestimmter Phasen Aleppos

Der Roman beginnt mit einer Überschwemmung im Jahr 1907, bei welcher der Euphrat über die Ufer tritt und das unweit von Aleppo gelegene Dorf Hosch Hanna verwüstet. Zwei der Protagonisten, die zum Zeitpunkt des Unglücks anderswo unterwegs sind, verlieren ihre Liebsten.

Roman-Cover: Khaled Khalifa: „Keiner betete an ihren Gräbern“. Roman.Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Foto: Rowohlt Verlag.
Destruktive Turbukenzen: Über fast hundert Jahre lang beschreibt der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa die Entwicklung Syriens, indem er die Geschichten mehrerer Familien erzählt.

Der syrische Christ und Spross einer Familie von Großgrundbesitzern Hanna Gregorus, nach dem der Ort benannt ist, muss den Tod seiner Frau und seines Sohnes beklagen. Seinem besten Freund, dem arabischen Muslim Zakaria Bayazidi, nimmt der Fluss den Sohn, während die kurdischstämmige Ehefrau Schaha knapp überlebt. Die einzige weitere überlebende Person ist die Christin Nassar Marjana, Tochter des Landverwalters von Hanna Gregorus – sie wird erst im späteren Verlauf der Handlung eine Rolle spielen.

Die Kata­strophe, deren Auswirkungen auf die Betroffenen der allwissende Erzähler, dessen Perspektive fast der ganze Roman einnimmt, über weite Strecken schildert, steht für eine Zäsur. Nach der Flut sind Hanna, Zakaria und Schaha nicht mehr dieselben; Schaha wird bald daran zugrunde gehen.

Der nächste, in das Jahr 1881 zurückblendende große Erzählabschnitt macht den Leser mit der Kindheit und Jugend der Hauptfiguren vertraut. Hanna, als Einziger einem Massaker osmanischer Offiziere an seiner Familie entronnen, wird von Zakarias Vater, einem Buchhalter, aufgenommen. Die beiden Jungen und Zakarias Schwester Suad verbindet bald eine enge Freundschaft mit dem jüdischen Jugendlichen Aza Istanbuli und seinem christlichen Gefährten William Issa. Bis auf Letzteren, dessen Leben wegen einer unerlaubten Liebe zu einem muslimischen Mädchen früh tragisch endet, bestimmen die anderen den Großteil der Romanhandlung.

Eindrucksvoll gelingt es dem Autor Khalifa, die Lebenswege dieser Figuren in ihren verschiedenen Phasen vor dem jeweiligen Zeit­hintergrund miteinander zu verflechten. Allerdings werden die gesellschaftspolitischen Umstände der osmanischen Ära und der anschließenden französischen Mandatszeit sowie des Übergangs zur Unabhängigkeit Syriens kaum beleuchtet. Entsprechend begegnen auch keine klar konturierten Figuren, die diese Herrschaftssysteme verkörpern.

Panorama der untergegangenen vielschichtigen Gesellschaft Aleppos

Liebe und Religion sind in dem Roman hingegen weit präsentere Mächte. Hanna, der sein Erbe als Großgrundbesitzer antritt, und Zakaria, der sich als Pferdezüchter einen Namen macht, sind für ihre Lasterhaftigkeit berüchtigt. Dieser frönen sie, obwohl mittlerweile Familien­väter, in einer eigens dafür gebauten Zitadelle, wo sie sich mit Freudenmädchen vergnügen. Ihr freizügiger Lebenswandel, der auch als Sinnbild für die streng patriarchale und von Korruption durchdrungene osmanische Welt gelesen werden kann, endet mit dem Untergang des Osmanenreichs.

Ein Jahrzehnt nach der Flut kommt es in der Region Aleppo abermals zu einer Katastrophe, diesmal sind es Hungersnot und Epidemie. Der einstige Lüstling Hanna entdeckt sich nun neu als Christ und lässt in seinem Heimatdorf ein Kloster bauen. Fromm wird Hanna jedoch, dessen Besitz sich die syrisch-katholische Kirche wiederholt zu bemächtigen versucht, nicht. Das hält die inzwischen über das Kloster herrschende Marjana – letztes noch lebendes Opfer des Hochwassers – nicht davon ab, ihn zu einem Heiligen erklären zu wollen. Ihr religiöser Eifer und ihre Aufdringlichkeit plagen Hanna bis zuletzt nicht weniger als seine unerfüllte Liebe zu Suad, die nie wirklich darüber hinweggekommen ist, dass sie nicht Mann und Frau geworden sind.

Besonders anhand ihrer Figur vermag es Khalifa, die Zeitenwende von der osmanischen zur kolonialen Epoche wie auch den Widerstand gegen die Folgen dieses Wandels zu veranschaulichen: Als die emanzipierte Suad in Aleppo eine Modenschau organisiert, machen muslimische Eiferer das Unterfangen mit einem Brandanschlag zunichte. Dieselben Gewalttäter werden später auch Hannas und Zakarias Lustzitadelle samt der darin lebenden alternden Prostituierten in Flammen aufgehen lassen.



Es mag an der Vielzahl der Roman­figuren liegen, an den häufigen biographischen Brüchen und auch an der großen Zeitspanne, die Khalifa abzudecken versucht, dass die psychologische Aus­gestaltung der Hauptprotagonisten nicht immer ganz gelingt. Als buntes Panorama der untergegangenen vielschichtigen Gesellschaft Aleppos beeindruckt dieser lesenswerte Roman aber allemal.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2022

Khaled Khalifa: „Keiner betete an ihren Gräbern“. Roman.Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 544 S., geb., 26,– €.