Auf der Suche nach Gottes Liebe

Indisch-pakistanische Musik: "Fanna-fi-Allah" ist das renommierteste westliche Qawwali-Ensemble. Es überzeugt nicht nur durch eine enorm starke Bühnenpräsenz, sondern auch durch sein Engagement zum Erhalt einer jahrhundertealten Tradition. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Eine Musiktradition zu erlernen, die über Jahrhunderte organisch gewachsen ist, Erbfolgen von Meistern hervorbrachte und dabei nach immer größerer Perfektion strebte, ist nicht leicht – vor allem nicht, wenn die eigene Kultur eine ganz andere ist.

Der Kanadier Tahir Faridi Qawwal, geboren als Geoffrey Lyons, wagte es trotzdem. Faridi, dessen Name auf Baba Farid, einen Sufi-Heiligen aus dem 13. Jahrhundert, zurückgeht, zog im Teenageralter als Sinnsucher und meditierender Wanderasket durch Indien. Im Alter von 17 Jahren fand er einen Sufi-Meister, konvertierte zum Islam und nahm den Namen Tahir an. Die Spiritualität der islamischen Mystiker Südasiens eröffnete sich ihm in der Tradition der Qawwali-Musik, in die er bei zahlreichen Aufenthalten in Pakistan und Indien eintauchte.

Heute ist Tahir Faridi Qawwal der Frontsänger von "Fanna-fi-Allah", dem erfolgreichsten westlichen Qawwali-Ensemble. Die Bandmitglieder fanden sich 2001 als Gruppe von Hippies und Aussteigern zusammen, deren spirituelle Sinnsuche sie auf den indischen Subkontinent geführt hatte. Was sie vereinte, war eine Leidenschaft für die Musik der großen Qawwals – insbesondere für den Gesang des legendären pakistanischen Qawwali Nusrat Fateh Ali Khan (1948-1997).

Gemeinsam mit seinen Bandkollegen ließ sich Tahir Faridi Qawwal in den Folgejahren von den Meistern der Tradition einweisen. Er lernte jahrelang unter renommierten Sängern wie Nusrats Neffen Rahat Fateh Ali Khan und widmete sich dem Studium des Harmoniums, dem wichtigsten Begleitinstrument im Qawwali.

Qawwali-Musiker im Innenhof des Schreins von Moinuddin Chishti in Ajmer, Indien. Foto: Marian Brehmer
Die Ursprünge des Qawwali reichen rund 900 Jahre zurück: Als Gründer des Genres gilt der Dichter und Sänger Amir Khusro (1253-1325), Schüler des Sufi-Heiligen Nizamuddin Auliya in Delhi. Mit seiner komplexen Rhythmik, einem virtuosen und zuweilen impulsiven Gesang und ausgeprägter Leidenschaft, ist Qawwali eine ritualisierte Form von Musik, die ekstatische Zustände in den Musikern und Zuhörern auslöst und damit das Göttliche individuell erfahrbar macht. Traditionell finden Qawwali-Darbietungen in den Innenhöfen der Sufi-Schreine Indiens und Pakistans oder in Präsenz eines spirituellen Meisters statt.

"Die ustāds (Meister) in Pakistan waren fasziniert von dem starken Interesse in unseren Herzen und davon, dass wir so weit gereist waren, um diesem zu folgen", sagt der Kanadier heute. "Je tiefer wir die Musik erlernten, desto stärker mussten wir unsere Hingabe an die Tradition unter Beweis stellen und zeigen, dass wir bereit waren, noch mehr zu empfangen. Dadurch wurden wir exponentiell ernster genommen."

"Entwerden in Allah"

"Fanna-fi-Allah" – eine Art islamisches Pendant zum buddhistischen Nirwana – lässt sich als "Entwerden in Allah" übersetzen. Faridi definiert den Namen des Ensembles als "höchsten Zustand der Realisierung Allahs, wenn der Schleier der Dualität gehoben wurde".

"Qawwali" wiederum leitet sich vom arabischen "qal" (Äußerung, Aussprache) ab. Die Ursprünge des Qawwali reichen rund 900 Jahre zurück. Als Gründer des Genres gilt der Dichter und Sänger Amir Khusro (1253-1325), Schüler des Sufi-Heiligen Nizamuddin Auliya in Delhi. Qawwali vereinte die Musikstile der alten indischen Klassik wie dem dhrupad mit den Gedichten und der Gefühlswelt der islamischen Mystiker.

Mit seiner komplexen Rhythmik, einem virtuosen und zuweilen impulsiven Gesang und ausgeprägter Leidenschaft, ist Qawwali eine ritualisierte Form von Musik, die ekstatische Zustände in den Musikern und Zuhörern auslöst und damit das Göttliche individuell erfahrbar macht.

 

 

Traditionell finden Qawwali-Darbietungen in den Innenhöfen der Sufi-Schreine Indiens und Pakistans oder in Präsenz eines spirituellen Meisters statt. Zum Repertoire der Qawwals gehören religiöse Hymnen, Preisgesänge zu Ehren des Propheten und seiner Familie, sowie Gedichte aus den persischen und indischen Sufi-Traditionen.

Tahir Faridi Qawwal, dessen Markenzeichen sein langgewachsenes, zu einem Turban gewickeltes Rasta-Haar ist, spricht Urdu und kennt sich gut in der Philosophie der Sufis aus. Inzwischen ist er in der Qawwali-Tradition so zuhause, dass ihm seine südasiatischen Meister den Segen dafür gaben, die Musik auf westliche Bühnen zu tragen. Bereits der begnadete Sänger Nusrat Fateh Ali Khan brachte in den 1980er und 1990er Jahren den Qawwali in die USA und nach Europa, experimentierte in Fusion-Projekten auch mit Rocksängern.Zwischen Bewahrung und Neuerfindung

In den letzten zwei Jahrzehnten hat Faridi mit seiner Band 1500 Konzerte gegeben, ein Großteil davon auf westlichen Musikfestivals – ein Spagat zwischen Bewahrung und Neuerfindung. "Es ist uns wichtig, das Wesen der Tradition zu bewahren", sagt Faridi. "Die traditionelle Form des Qawwali hat mehr als genügend Anziehungskraft, um reizvoll für viele Leute im Westen zu sein. Daher brauchen wir am Qawwali nichts zu verändern."

In den Konzertclips von "Fanna-fi-Allah" auf YouTube sind leicht bekleidete Festivalbesucher zu sehen, die sich wild zu Klängen von Tabla und Harmonium oder Lobgesängen auf den Prophetencousin Ali schütteln. Natürlich gebe es manchmal negative Kommentare von orthodoxen Muslimen oder Puritanern, die damit nicht einverstanden seien. Doch Veränderung, betont Faridi, liege in der Natur des Genres: "Jeder, der Qawwali kennt, weiß, dass es erschaffen wurde, um geteilt zu werden. In seinem Wesen ist das Genre eine Kombination verschiedener Elemente. Genau diese Offenheit der Tradition half dabei, die Geschichten und Weisheiten der Meister zu verbreiten und die Menschen zum islamischen Glauben zu führen."

An sich unterscheiden sich die Moves der Festivalbesucher gar nicht so sehr vom dhamal, dem spontanen Ekstase-Tanz der Derwische an pakistanischen Schreinen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Qawwali führt Tahir Faridi Qawwal in der von ihm gegründeten "Sama-Musikschule" auch Frauen in die Tradition ein. "Wir haben recherchiert und konnten keinen guten Grund finden, warum Frauen nicht an dieser Tradition teilnehmen sollten", meint Faridi. "Es ist nun die richtige Zeit, um Frauen so zu ehren, wie sie auch zur Zeit des Propheten geehrt wurden." Aminah Chishti, Percussionistin bei "Fanna-fi-Allah", gilt als erste weibliche Tabla-Spielerin in der Geschichte des Qawwali.

 

Einsatz für den Erhalt des Qawwali

Neben den Konzerten setzen sich "Fanna-fi-Allah" auch dafür ein, die Lebenswelt des Qawwali zu dokumentieren und zu seinem Erhalt beizutragen. Mit einem Stipendium der US-Botschaft in Islamabad reiste Faridi mit seiner Gruppe für ein Filmprojekt an die Sufi-Schreine von Pakistan und Indien, traf die großen ustads und widmete sich einer gründlichen Erforschung der historischen, kulturellen und spirituellen Hintergründe des Qawwali. Das Ergebnis ist die achtteilige Doku-Reihe "Qawwali – Die Musik der Mystiker", die episodenweise in den letzten Monaten erschienen ist.

Wenn man sich diese Filme aus dem Herzen der Qawwali-Kultur anschaut, wird deutlich, wie sehr Faridi und seine Band diese Tradition verinnerlicht haben. Immer wieder kommen Musiker aus den Qawwali-Schulen des Subkontinents zu Wort, die versuchen, ihre Musik – viele von ihnen wohl zum ersten Mal – kurz gefasst in Worte zu kleiden. Besonders wertvoll sind die Aufnahmen von Live-Auftritten in den Innenhöfen von Sufi-Schreinen, in Ajmer im indischen Rajasthan am Grab von Moinuddin Chishti, im Schrein von Baba Farid im pakistanischen Pakpattan, aber auch an weniger bekannten Orten wie in Aroop Sharif, einem Pilgerort in der Stadt Gujranwala im Nordosten der pakistanischen Provinz Punjab.

Die Dokumentation überzeugt mit einer dynamischen Kameraführung und hochwertigen Aufnahmen, die eine meditative, träumerische Atmosphäre erzeugen. Bemerkenswert ist auch, dass Faridi in seiner Dokumentation zahlreiche Musiker porträtiert, die im Laufe der Filmarbeiten oder kürzlich verstorben sind.

So ist gleich in der ersten Episode der pakistanische Musiker Amjad Fareed Sabri zu sehen, wie er ein bekanntes Qawwali-Stück a capella in den Nachthimmel singt. Diese Szene ist besonders wertvoll, denn Sabri, der aus der Familie der berühmten “Sabri Brothers” stammt, wurde im Sommer 2016 nach einem Auftritt im Fernsehen in Karachi von Auftragsmördern der Tehrik-i-Taliban erschossen. Der Mord sendete Schockwellen durch Pakistans Qawwali-Szene.

Der Kanadier Tahir Faridi Qawwal. Foto: Tahir Faridi Qawwal
"Die ustāds (Meister) in Pakistan waren fasziniert von dem starken Interesse in unseren Herzen und davon, dass wir so weit gereist waren, um diesem zu folgen", sagt Tahir Faridi Qawwal heute. "Je tiefer wir die Musik erlernten, desto stärker mussten wir unsere Hingabe an die Tradition unter Beweis stellen und zeigen, dass wir bereit waren, noch mehr zu empfangen. Dadurch wurden wir exponentiell ernster genommen."

Für die Zukunft bewahren

Somit ist "Qawwali – Die Musik der Mystiker" auch ein wertvolles Zeitdokument, das die Qawwali-Tradition für die Zukunft bewahrt. Dies ist in der heutigen Zeit umso wichtiger, denn nicht nur Fundamentalisten in Pakistan bedrohen die Qawwali-Kultur, sondern zunehmend auch die aktuelle Politik der Hindu-Nationalisten in Indien, die muslimisches Kulturgut marginalisieren wollen.

Erst im Januar 2020 ließ der Ministerpräsident des Bundesstaates Uttar Pradesh einen Qawwali-Live-Auftritt in Lucknow, ironischerweise einem der traditionsreichsten Zentren islamischer Kultur auf dem Subkontinent, unterbrechen – zur Begründung hieß es lapidar, dass Qawwali "hier nicht stattfinden könne."

Tahir Faridi Qawwal ist zudem ein Brückenbauer zwischen den zwei seit Jahrzehnten verfeindeten Nachbarn Indien und Pakistan, die ein gemeinsames kulturelles Reichtum teilen.

"Es ist unsere Stärke, dass wir die Kultur der beiden Länder aus einer Vogelperspektive sehen können, die Muslime in Pakistan oder Hindus in Indien niemals einnehmen würden," sagt er. "So können wir die Schönheit beider Kulturen und Religionen mit ihrer jeweiligen Lebensweise wahrnehmen. In Gesprächen haben wir Pakistanis und Indern von unseren positiven Erfahrungen im jeweils anderen Land erzählt und sind damit ein stückweit den Vorurteilen entgegengetreten, die sie gegenüber dem Nachbarn hegen."

Marian Brehmer

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