Die Revolution ist nicht gescheitert

Vor zehn Jahren stürzten die Ägypterinnen und Ägypter Hosni Mubarak. Mehr Freiheit hat es ihnen nicht gebracht, dennoch haben sie etwas gewonnen. Ein Essay von Andrea Backhaus

Essay von Andrea Backhaus

Es gibt eine Szene im Film The Square, die den Zustand Ägyptens treffend beschreibt. Der Aktivist Ahmed Hassan läuft durch die Straßen Kairos, im Voiceover berichtet er vom Leben in der Diktatur. Würdelos sei dieses Leben und ungerecht, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Er erzählt von der Unterdrückung eines skrupellosen Regimes und dessen Diktator. "Das Regime", sagt Hassan, "hat schon immer gegen die Menschen gearbeitet, sie gefoltert, mit Elektroschocks gequält, aufs Übelste verprügelt."

Diese Unterdrückung durch einen Polizeistaat in Ägypten unter Diktator Abdel Fattah al-Sissi ist heute Alltag. Aber Hassans Bericht ist nicht von heute, er ist zehn Jahre alt. Hassan beschreibt genau das, was viele Ägypterinnen und Ägypter im Januar 2011 nicht mehr ertragen wollten – und was sie zu einer Revolution antrieb.

Der Dokumentarfilm The Square (dt. Der Platz), 2013 veröffentlicht, zeigt die Ereignisse der ägyptischen Revolution aus Sicht von Aktivistinnen und Aktivisten, darunter Ahmed Hassan. Der Film dokumentiert eine Zeit, in der sich Menschen von Tunis bis Sanaa gegen ihre Unterdrücker erhoben. Er ist eine Ode auf den Kairoer Tahrir-Platz, der zu einem Symbol geworden ist. Zu einem Symbol für den Mut jener, die sich friedlich für ein besseres Ägypten einsetzten und dafür einen hohen Preis zahlten. Hassan sagt in dem Film, er sei überwältigt gewesen, als er auf die Straße ging: "Alle empfanden das, was ich auch empfand."

Der Film zeigt dann, wie Zehntausende Frauen und Männer auf den Tahrir strömen, sie rufen: "Das Volk will ein Ende der Korruption!" Dann treiben Polizisten die Menschen auseinander, sie schießen, Zivilistinnen fallen zu Boden, Helfer ziehen sie aus dem Schussfeld.

Schaut man diesen Film heute, scheint es, als gebe es in Ägypten kein Entkommen aus dem Kreislauf von Unterdrückung, Aufbegehren, Niederschlagung und noch mehr Unterdrückung. Dabei zeigen diese Bilder auch, was möglich ist.

Spricht man mit Ägypterinnen und Ägyptern über die Tage des Aufruhrs Anfang 2011, die am 25. Januar begannen und am 11. Februar mit dem Rücktritt von Hosni Mubarak ihren Höhepunkt fanden, dann erinnern sich viele vor allem an das Gefühl, ein Volk zu sein, das gemeinsam für "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" kämpfte. Daran, dass zumindest dieses eine Mal alle sozialen und politischen Gräben überwunden waren.

Damals war es so: Auf dem Tahrir-Platz bauten Demonstrierende Zelte und Bühnen auf, es waren Frauen mit und ohne Kopftuch, Männer im traditionellen Gewand oder im Anzug oder in Arbeitskleidung. Sie alle aßen zusammen und sangen Protestlieder. Als am 11. Februar 2011 der damalige Vizepräsident Omar Suleiman Mubaraks Rücktritt verkündete, weinten und schrien sie, vereint in ihrer Erleichterung, sie schossen Feuerwerksraketen in den Abendhimmel und schwenkten die ägyptische Fahne.

Sie dachten, sie hätten es geschafft. Doch sie hatten sich getäuscht.

 

 

Die Haltung zum Militär entzweit die Gesellschaft

Nach Mubaraks Abtritt übernahm der oberste Rat der Streitkräfte (SCAF) die Kontrolle. Anfangs gab sich die Armee als Beschützer der Demonstrierenden, doch das änderte sich schnell. Statt wie zugesagt die Macht bald einer zivilen Regierung zu übertragen, verschaffte sich das Militär mehr Einfluss und verzögerte die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Soldaten prügelten mit Stöcken auf die Revolutionäre ein, die weiterhin für mehr Mitbestimmung auf die Straße gingen. Sie quälten die Demonstrantinnen mit sinnlosen Jungfräulichkeitstests – angeordnet hatte das der damalige Feldmarschall und heutige Präsident Abdel Fattah al-Sissi.

Im Juni 2012 gewann der Anführer der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, die Präsidentschaftswahl. Es war die erste demokratische Wahl in Ägypten, die aber einen Präsidenten an die Macht brachte, der dann nicht demokratisch regierte. Er wollte die Religion zur Staatsdoktrin erheben. Viele verspotteten damals den ungeschickten Autokraten, andere fürchteten einen gesellschaftlichen Rückschritt.

Mursis Amtszeit war geprägt vom Kräftemessen mit dem Militär, das sich immer mehr Befugnisse sicherte und Mursi im Sommer 2013 schließlich aus dem Amt putschte – durchaus mit Unterstützung der Bevölkerung. Vielen Ägypterinnen und Ägyptern schien die Armee damals die Rettung vor den Islamisten zu sein und der künftige Präsident Al-Sissi als eine Art Heilsbringer. Doch Al-Sissi machte schnell deutlich, wie er mit seinen Feinden verfahren würde: verfolgen, verhaften, vernichten. Nach dem Motto: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.

Im August 2013 räumten Polizisten und Sicherheitskräfte den Rabaa-al-Adawiya-Platz in Kairo. Anhänger der Muslimbrüder hatten dort ein Zeltlager errichtet und wochenlang gegen die Absetzung Mursis protestiert. Am Ende waren mehr als 1.000 Menschen tot, Tausende verletzt. Laut Human Rights Watch war das Rabaa-Massaker eine der grausamsten Massenexekutionen von Demonstrierenden in der jüngeren Geschichte.

Die Brutalität des Militärregimes entzweite die ägyptische Gesellschaft bald, Anhänger und Gegnerinnen der Armee standen sich unversöhnlich gegenüber. Der Riss verlief auch durch die Gruppe der säkularen Demokratiebewegung selbst, die die Revolution 2011 maßgeblich in Gang gebracht hatte. Viele der einstigen Tahrir-Aktivsten fühlten sich von allen verraten: vom Militärrat, von Mursi, von den Salafisten, die erst mit den Demonstrierenden mitgelaufen waren, dann aber mit dem Militär paktiert hatten; verraten auch vom Militär, das unter Al-Sissi so einflussreich wurde wie nie zuvor.

Zur Wahrheit gehört auch, dass nicht wenige der Revolutionäre lange das Militär unterstützten, auch noch, als klar wurde, wie grausam es gegen die Anhänger der Muslimbrüder vorging. Auch einige ägyptische Intellektuelle, Leitfiguren der Revolution, ließen sich vom Hass gegen die Muslimbrüder anstacheln, etwa der Schriftsteller Ala al-Aswani. Viele Liberale verstanden erst, wie gefährlich Al-Sissi ist, als er begann, auch gegen sie vorzugehen.

Menschen wie Al-Aswani sind heute erbitterte Gegner Al-Sissis. Die Demokratiebewegung hat es weder geschafft, den Protest in ein politisches Programm umzuwandeln, noch, jene Ägypter zu mobilisieren, die nicht so weltoffen, gebildet und vergleichsweise wohlhabend waren wie sie selbst. Doch ihre Anhängerinnen haben ihr Leben riskiert, damit sie und ihre Mitbürger in Würde leben können. Viele tun das bis heute.

Al-Sissis Diktatur in Ägypten

Ab 2014 setzte Al-Sissi seine autoritäre Herrschaft rigoros durch. Er baute den Sicherheitsapparat und die staatliche Überwachung aus und ging gegen alle vor, die es wagten, ihn infrage zu stellen. Blogger, Journalistinnen, Menschenrechtsaktivisten – viele von ihnen einstige Revolutionärinnen – wurden bedroht, gekidnappt und inhaftiert.

Und Al-Sissi bemühte sich, die Geschichte umzuschreiben: 2011 habe es keine Revolution gegeben, lautet das offizielle Narrativ, die wahre Revolution habe 2013 stattgefunden. Gemeint sind damit die Proteste, die Mursis Absetzung begleiteten. Und so glauben viele Demokratieaktivistinnen, das Militär habe womöglich alles geplant gehabt: Mubaraks Sturz, die Machtergreifung Mursis, das Scheitern der Muslimbruderschaft – die einzige ernstzunehmende Konkurrenz der Armee – und schließlich das Comeback der Generäle.

Schwer zu sagen, ob da etwas dran ist. Klar ist allerdings, dass Al-Sissi seine Macht nach dem Prinzip "Teile und herrsche!" sichert. Er spielt unterschiedliche Religionsgruppen gegeneinander aus, gibt sich etwa als Schutzmacht der Christinnen gegenüber den Islamisten, um sein Image im Westen zu stärken. Wer ihn kritisiert, wird als Terrorist und Staatsfeindin diffamiert. Auf diese Weise hat Al-Sissi die echten Terroristen gestärkt: Einige moderate Anhänger der Muslimbrüder haben sich beispielsweise Terrorgruppen wie dem "Islamischen Staat" (IS) angeschlossen, nachdem Familienangehörige mit Kopfschüssen hingerichtet worden waren. Statt den realen Extremismus zu bekämpfen, benutzt Al-Sissi den sogenannten Kampf gegen den Terror, um noch härter gegen sein Volk vorzugehen.

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Al-Sissi hat seinem Land noch viel mehr Schaden zugefügt. Unter seiner korrupten Führung haben Armut und Arbeitslosigkeit zugenommen. Auch Ägypterinnen und Ägypter versuchen mittlerweile, weil sie im Land keine Perspektive mehr für sich sehen, mit klapprigen Booten das Mittelmeer Richtung Europa zu überqueren. Die Medien sind gleichgeschaltet und die wenigen unabhängigen Journalisten werden bedroht. Die Gerichte agieren als Handlanger des Regimes.

Paranoia ist Teil des Alltags

Bis 2013 gab es noch Freiräume, in denen Fotografinnen, Graffitikünstler und Theatermacherinnen gesellschaftliche Utopien entwerfen konnten. Heute bestimmt bleierne Angst den Alltag der Ägypterinnen und Ägypter. Mehr als 60.000 Menschen sitzen aus nichtigen Anlässen in Al-Sissis Gefängnissen, etwa weil sie in einem Facebook-Beitrag die hohe Arbeitslosigkeit erwähnt haben. Viele werden gefoltert, müssen ohne Decken auf eisigem Boden schlafen oder sterben, weil Wärter ihnen medizinische Hilfe verwehren.

Selbst wer die Haft überlebt, kann sich nicht sicher fühlen. Das betrifft vor allem die einstige Revolutionsjugend. Zum Beispiel den Fotografen Mahmoud Abu Zeid, auch bekannt als Shawkan. Er wurde verhaftet, als er das grausame Vorgehen der Polizei während des Rabaa-Massakers dokumentierte. Shawkan wurde im März 2019 aus dem Gefängnis entlassen, muss sich seither aber jeden Abend bei einer Polizeiwache melden. Oder der Blogger Alaa Abd al-Fattah, eine Ikone der Revolution, der nach fünf Jahren Haft 2019 kurz frei war und im September 2019 erneut verhaftet wurde. Er wird seither im Hochsicherheitstrakt des berüchtigten Tora-Gefängnisses in Kairo gefoltert. Oder die Menschenrechtsanwältin Mahinur al-Masri aus Alexandria, die seit September 2019 im Gefängnis sitzt. Vielen weiteren geht es ähnlich.

Al-Sissi hat die Zivilgesellschaft zerstört. Die wenigen Organisationen, die noch die Verbrechen des Regimes dokumentieren, werden eingeschüchtert. Erst im November 2020 wurden drei Mitarbeiter der international angesehenen Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR) verhaftet. Nach internationaler Empörung kamen sie frei, ein vierter Mitarbeiter, Patrick Zaki, ist noch in Haft. In Ägypten weiß niemand, wann die nächste Verhaftung kommt. Diese Paranoia ist Teil des Alltags geworden.

Die Macht der Zivilgesellschaft

Es gibt zwei Mythen in der westlichen Beurteilung der ägyptischen Revolution: Erstens sei sie gescheitert. Zweitens sei es den Menschen vor 2011 besser gegangen. Beide Annahmen sind so nicht richtig und auch gefährlich.

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Die Revolution ist nicht endgültig gescheitert. Eine Revolution geschieht nicht über Nacht, sie ist ein langer Prozess. Der Sturz Mubaraks hat in Ägypten zwar nicht die erhoffte Freiheit gebracht, doch er hat den Menschen gezeigt, was möglich ist, wenn sie zusammen für ihre Rechte einstehen. Die, die nach der Revolution groß geworden sind, wollen heute vieles anders machen als ihre Eltern.

Entschlossen wie selten zuvor kämpfen Frauen und Männer in Ägypten etwa dafür, dass sexuelle Übergriffe aufgeklärt und die Täter bestraft werden. Auch haben viele Menschen in der Region genug von der Korruption und Selbstbereicherung der nun Herrschenden und der Armut, die daraus resultiert. Das zeigen Proteste, die in Kairo und Tunis, in Bagdad und Beirut immer wieder entstehen und die heute oft fordernder und hartnäckiger sind als vor 2011.

Diese Demonstrierenden stellen ein stillschweigendes Abkommen infrage, das arabische Despoten über Jahrzehnte als Legitimation für ihre Repressionen benutzten und das lautet: Wir sorgen für Brot und Sicherheit, ihr haltet den Mund. Viele Demonstrierende verlangen nicht nur, dass der Staat ihre Grundversorgung sicherstellt, sie wollen auch politische Veränderungen. Etwa im Libanon, wo viele das jahrzehntealte Proporzsystem abschaffen wollen, das vorsieht, Regierungsposten nicht nach Kompetenz, sondern nach Konfessionen zu verteilen, und das zu umfangreicher Vetternwirtschaft geführt hat.

Auch ging es den Menschen in der Region vor den Aufständen nicht besser, jedenfalls nicht den meisten. Eher nahmen viele westliche Politikerinnen und Diplomaten in Kauf, dass arabische Despoten mit eiserner Hand regierten, weil das scheinbar für Stabilität sorgte. Die Verbrechen, die unter Mubarak, Ben Ali, Gaddafi und Al-Assad begangen wurden, haben sie hingenommen, sie tun es noch immer. Viele Ägypterinnen und Ägypter werfen der deutschen oder französischen Regierung vor, als Komplizen des Regimes in ihrem Land zu handeln. Trotz der Diktatur investieren deutsche Firmen in Ägypten, Al-Sissis Regime gehört zu den besten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte bei Al-Sissis Besuch in Paris im Dezember 2020, die schlechte Menschenrechtslage hindere Frankreich nicht daran, weiterhin Waffen an Ägypten zu liefern.

Viele Missstände, gegen die die Menschen in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas 2011 protestiert haben, sind noch da: Armut und Hunger, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, fehlende Mitbestimmung. Doch in vielen Teilen der Gesellschaften gibt es seither die Überzeugung, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst etwas verändern können, wenn die Regierung versagt. Trotz aller Widerstände organisieren sich von Tunesien bis Jemen Menschen, etwa um Frauenrechte voranzubringen, die Arbeit von Journalisten zu schützen oder die Armen und Kranken zu versorgen. Die Zivilgesellschaft leistet in dieser Region wertvolle Arbeit – und sollte unterstützt werden.

In The Square sagt Ahmed Hassan über den Abend, als Mubarak zurücktrat: "Wir haben unsere Freiheit zurückgeholt." Dass das noch mal gelingen kann, erscheint heute unwahrscheinlicher denn je. Doch das schien es damals auch.

Andrea Backhaus

© ZEIT ONLINE 2022

 

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