Es muss das Paradies sein

Palästina verschwindet. Von der internationalen Agenda, von der Landkarte, als Begriff. Der Filmautor Elia Suleiman aus Nazareth reagiert in der einzig möglichen Form: der Sprache des Absurden, meint Stefan Buchen in seiner Rezension.

Von Stefan Buchen

Ein moderner Philosoph hat einmal von der Unmöglichkeit gesprochen, einen Standort außerhalb des Getriebes einzunehmen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre. Die Möglichkeiten des Kinos könnte der Philosoph, es war Theodor W. Adorno, dabei übersehen haben.

Die Filmfigur Elia Suleiman bezieht eine Position außerhalb des Getriebes. Er hat es verlassen. Man ahnt, dass er früher mal Teil des Getriebes gewesen ist. Aber es hat ihn sozusagen ausgespuckt und nun betrachtet er es nur noch von außen.

Inszenatorisch ist es möglich, ein solches Geschehen im Kino darzustellen. Elia Suleiman ist im Film. Er hat darin sogar eine hohe visuelle Präsenz. Und doch ist er im Abseits, im Aus. Er spricht nicht. Er hört nur, was die anderen sprechen. Er scheint das Gesprochene wahrzunehmen. Ob er es auch wahrnehmen will, daran hat man leise Zweifel.

Es ist also ausgeschlossen, dass Elia Suleiman, die schweigende Filmfigur, den Spuk mit Namen nennt. Diese Rolle übernimmt der Regisseur Elia Suleiman. Womit wir beim Filmganzen wären.

Das allmähliche Verblassen Palästinas

Der Spuk ist das allmähliche Verblassen Palästinas, sein Entschwinden vom Boden der Tatsachen. Insofern schenkt der Regisseur seinem Erstlingswerk von 1996, "Chronik eines Verschwindens", einen zweiten Teil.

Am Anfang zieht ein Priester mit prächtigem Bart und im noch prächtigeren Gewand, einen Stab tragend und gefolgt von einer feierlich singenden Gemeinde, vor die Kirche. Es muss Weihnachten oder Ostern sein. Das Ritual gebietet, dass die Kirchentür von innen entriegelt und – wie von unsichtbarer Hand – geöffnet wird, damit die Gemeinde der Gläubigen Einzug halten kann. Aber das geschieht nicht. Diejenigen, die von innen die Tür öffnen sollen, spielen nicht mit. Das Ritual stockt.

Von einem Moment auf den andern legt der Priester alle Feierlichkeit ab und zischt verärgert: "Mach die Tür auf, Du Arsch." Von innen ist eine jugendliche Stimme zu hören. Der Gottesmann könne sich gehackt legen. "Ich mache die Tür nicht auf." Da nimmt der Priester fluchend den Seiteneingang und man hört, wie er in der Kirche den renitenten Jugendlichen verprügelt.

Was folgt, hat mit dieser Anfangsszene scheinbar nichts zu tun, außer, dass der Ort des Geschehens zunächst der gleiche ist. Es dürfte Nazareth sein. Eine kurze Episode jagt die nächste. Das formal verbindende Element ist die Präsenz des zunehmend entrückten Elia Suleiman.

Ein Jäger erzählt ihm, wie er einen kreisenden Adler abgeschossen habe, der gerade zum Sturzflug auf eine Schlange habe ansetzen wollen. Die Schlange habe es ihm später gedankt. Sein Auto habe einen Platten gehabt, und die Schlange habe den Reifen wieder aufgeblasen. Er habe ihr rhythmisches Luftholen und Blasen genau gesehen. Der Blick des zuhörenden Elia Suleiman verrät nicht viel, höchstens, dass er es für nicht ganz unmöglich hält.

Kampf um den Geschmack der Heimat

Auf einer Restaurantterrasse verspeist eine attraktive junge Frau ein palästinensisches Geflügelgericht. Zwei synchron Whisky trinkende Männer leisten ihr Gesellschaft. Sie klagt dem Wirt, die Sauce sei zu sauer. Der Wirt erläutert, die Säure komme vom Weißwein. So sei es richtig. Die Stimmung spannt sich in dem Widerspruch zwischen der Empörung über die diskrete, aber natürliche Präsenz des Alkohols auf dem Teller der Frau und der gleichzeitigen Unbekümmertheit, mit der die Männer Hochprozentiges in ihre Kehlen kippen.

Elia Suleiman beobachtet es als solitärer Restaurantbesucher. Er trinkt dabei Arak, mit Eis verdünnten palästinensischen Anisschnaps. Man ahnt, dass er, heimlich verbündet mit dem Wirt, um den guten Geschmack kämpft, den Geschmack der Heimat.

Palästina ist eine junge Frau, natürlich eine hübsche mit langen schwarzen Haaren. Natürlich schreitet sie durch einen sonnigen Olivenhain. Und obwohl sie fast eine Fee ist, kann Elia Suleiman sie ganz deutlich durch das Geäst hindurch sehen. Dass sie von zwei israelischen Soldaten entführt wird, war zu befürchten. Mit verbundenen Augen findet sie sich auf der Rückbank eines Autos wieder. Elia Suleiman kann die Gefangene nicht retten.

Er verlässt Palästina. Das Flugzeug biegt und schüttelt sich, als es die Küste hinter sich lässt. Die übrigen Passagiere merken davon nichts.

In der Sphäre des Absurden

Der Film bewegt sich in der Sphäre des Absurden, das von der Komik lebt. Paris ist dafür ein gutes Exil. Hier verschmelzen Filmfigur und Regisseur. Elia Suleiman soll nun filmisch von Palästina erzählen. Dass die westliche Kinoindustrie Unpolitisch-Exotisches von ihm erwartet, erkennt man schon an einem Plakat im Büro des Filmproduzenten. "Noruz" steht da, ein persischer Film, der in Wirklichkeit glücklicherweise nie gedreht wurde.

Kinoplakat "Vom Gießen des Zitronenbaums" von Elia Suleiman
"Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass es keine bessere Antwort auf Trumps 'Jahrhundertplan' gibt als Suleimans Kino des Absurden. Palästina sollte also ein Video-File ans Weiße Haus schicken und eine Kopie ans State Department. Diese Adressaten haben schließlich nur eine Antwort verdient, die sie nicht verstehen", schreibt Stefan Buchen.

Die Bildsprache hat eine überwältigende Kraft. Aber den Sehgewohnheiten des Tatortzuschauers entspricht der Film nicht. Wer seine Oliven bei Edeka oder Rewe kauft, weil er sie geschmacklos liebt, sollte ihn meiden. "Es muss das Paradies sein", lautet der arabische Titel. Für den deutschen Markt hat man "Vom Gießen des Zitronenbaums“ daraus gemacht. Zum Glück kann diese grottenschlechte, weil einfallslos romantisierende, Übertragung dem Original nicht schaden.

Ob er der perfekte Fremde, "der perfect stranger" sei, wird Elia Suleiman von einem leicht versoffen dreinschauenden Kritiker in New York, dem zweiten Exilort, gefragt. Eine Antwort bleibt er, wie immer, schuldig. Die Antwort liegt in der Gesamtgeschichte. Perfekt, vollkommen, kann in ihr nichts sein, nicht einmal die Entfremdung. Zu viel ist zerbrochen. "Die anderen Völker trinken, um zu vergessen. Wir Palästinenser trinken, um uns zu erinnern", erklärt ein Co-Exilant in New York über einem Glas Arak. Elia Suleiman wird wissen, dass diese Aussage nicht ganz stimmt.

Schrei nach Erlösung

Das Absurde und das Urkomische erzeugen rohen Schmerz. So erhebt sich das Werk zu wahrer Größe. Der Schmerz schreit nach Erlösung. Weil die notwendige Reparatur dessen, was zerbrach, so unmöglich erscheint, muss die Erlösung mit dem irrationalen Wunsch verbunden sein, Geschehenes ungeschehen zu machen.

1947, nach dem Teilungsplan der Vereinten Nationen für Palästina, wünschte sich ein Zeitgenosse, die UNO möge hier die Position von König Salomo eingenommen haben, der den Vorschlag der Zerteilung nur gemacht habe, um die streitenden Parteien zu einer anderen, das Ganze bewahrenden Lösung zu bewegen.

Der Engel, der solch ahistorische Wünsche auf den Flügeln trägt, flattert durch den Film. Er landet im Central Park und ist der Gefahr ausgesetzt, von der New York Police abgeschossen zu werden. Eine gewisse Ähnlichkeit hat der Engel, von weitem betrachtet, mit der Dame Palästina. Als die Polizisten den Engel endlich zu Boden gehetzt haben und sie seine schneeweißen Flügel hochklappen, ist der Körper darunter verschwunden.

Der Film macht klar, dass diese ganze Erlösungssehnsucht ohne echt nazarenische Wunder keinen Sinn ergibt. Elia, für den vielleicht jemand einen Stuhl und ein Glas an einem gedeckten Tisch in Palästina reserviert hat, muss am Ende zurück.

Auf diesem Weg kann ihn der amerikanische Flughafendetektiv nicht stoppen. Freundlich nimmt Elia der Security den Metalldetektor aus der Hand. Das Gerät erhebt sich ganz von allein in die Lüfte und vollführt einen kurzen eleganten Tanz über den Köpfen, um wieder in der Hand des Filmhelden zu landen. Er gibt der verblüfften Security den Metalldetektor zurück und passiert, ganz ohne Kontrolle.

Gewalt ist keine Option

Man ahnt, Gewalt ist in diesem Film keine Option. Allein unterwegs in einer Gasse, es könnte in Nazareth, aber auch in Hebron, Bethlehem oder Tulkarem gewesen sein, hört Elia Suleiman hinter sich Schritte. Ein halbes Dutzend gut gebauter und modisch frisierter junger Männer, bewaffnet mit Steinen und Keulen, läuft an ihm vorbei, die Gasse bergauf. An einer Weggabelung teilt sich der Trupp in drei Kleingrüppchen auf. Wem dieser dreifaltige Angriff gilt, kann man nur vermuten.

Mehr Intifada-Reminiszenzen gibt es nicht. Und ein Plädoyer für eine dritte sähe sicher anders aus. Elia Suleimans Haare sind, seit der "Chronik eines Verschwindens", grau geworden. In der Schlussszene hat er an der Bar eines Tanzclubs Platz genommen. Still betrachtet der Gealterte eine Gruppe ausgelassen tanzender junger Frauen und Männer.

Es ist nicht seine Welt, er ist ein Fremder. Auf diese Szene hemmungslos überbordender Energie schaut er ohne Vorwurf oder Groll. Eher glaubt man, eine Hoffnung in seinem Blick zu erkennen. Könnte dieser Generation etwas Neues und Besseres einfallen? Der Patriarch, das ist klar, hat jedenfalls nicht zu prügeln.

Vier Jahre hat das Weiße Haus der palästinensischen Führung Zeit gegeben, über den "Jahrhundertplan" von Donald Trump und Jared Kushner nachzudenken. Elia Suleiman kann den "Plan", an dessen Entwurf ja kein Palästinenser beteiligt war, vor dem Schreiben seines Drehbuchs nicht gekannt haben.

Daran kann kein Zweifel bestehen: Es gibt wohl keine bessere Antwort auf den "Plan" als sein Kino des Absurden. Palästina sollte also ein Video-File ans Weiße Haus schicken und eine Kopie ans State Department. Diese Adressaten haben schließlich nur eine Antwort verdient, die sie nicht verstehen.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2020

Der Rezensent arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama. Er studierte Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv.