Irans Schachspiel in Wien

Das Risiko von neuen Sanktionen der Vereinten Nationen gegen Iran hängt wie ein Damoklesschwert über der Amtszeit von Präsident Ebrahim Raisi. Diese Befürchtung könnte Raisis stärkste Motivation für einen Kompromiss bei den Atomverhandlungen sein. Von Djavad Salehi-Isfahani

Von Djavad Salehi-Isfahani

In einem Qualifikationsspiel für die Fußballweltmeisterschaft 2022 im vergangenen November lag der Iran gegen den Libanon nach 90 Minuten mit 0:1 zurück. In den sozialen Medien bereiteten sich skeptische Iraner darauf vor, die drohende Niederlage ihrer Mannschaft den iranischen Hardlinern in die Schuhe zu schieben. Angeblich wollten sie das Spiel verlieren, um Irans libanesischem Stellvertreter, der Hisbollah, zu gefallen. Doch in den vier Minuten der Nachspielzeit erzielte der Iran zwei Tore und sicherte sich damit den Sieg.

Heute tickt die Uhr für die iranische Führung bei den äußerst wichtigen Verhandlungen für eine Wiederbelebung des Atomabkommens von 2015 in Wien. Zumindest nach Ansicht ihrer amerikanischen Amtskollegen zeigen die Iraner bei den Verhandlungen nicht die erforderliche Dringlichkeit. Dabei es war der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der 2018 einseitig aus dem Joint Comprehensive Plan of Action (JCPoA, wie das Abkommen von 2015 offiziell heißt) ausstieg und erneut harte Wirtschaftssanktionen gegen Iran verhängte.

Trotz dieses vernichtenden Schlags blieb der Iran weitere 14 Monate im Abkommen, bevor er sein nukleare Anreicherung über die im JCPoA festgelegten Grenzen hinaus ausweitete.

Nach sechswöchigen Gesprächen in Wien trugen selbst Berichte über langsame Fortschritte bei den Verhandlungen dazu bei, dass die iranische Währung Rial, der Ende letzten Jahres, als die Verhandlungen schlecht liefen, auf einen neuen Tiefstand gefallen war, sich um 10 Prozent erholte. Die Aussichten, dass die Parteien eine Einigung erzielen, bevor die Vereinigten Staaten und Europa die Geduld mit dem raschen Marsch des Iran hin zu einer waffenfähigen Uran-Anreicherung verlieren, sind jedoch gering.

Ali Bagheri-Kani steigt aus dem Auto am Hotel Palais Coburg in Wien (Foto: Lisi Niesner/Reuters)
The Joint Comprehensive Plan of Action agreed in July 2015 was torpedoed when former US president Donald Trump announced the unilateral withdrawal of the US from the agreement in 2018. Many hopes are pinned on the success of the current talks on Iran's nuclear programme and a possible roadmap for a revival of the JCPOA currently taking place in Vienna. Pictured here: Iran's chief negotiator at the talks in Vienna, Ali Bagheri-Kani

Eine Gefahr für den Frieden in Nahost

Ein Scheitern in Wien würde den Frieden im gesamten Nahen Osten gefährden. Israel versucht, das iranische Atomprogramm zu bremsen, das seine regionale Hegemonie unmittelbar bedroht, doch seine Sabotageakte und Attentate könnten einen umfassenderen regionalen Konflikt auslösen, in den auch die USA verwickelt werden könnten.

Ebenso dringend braucht der Iran eine Atempause von den Sanktionen, denn der neue Hardliner im Präsidentenamt, Ebrahim Raisi, muss sein Versprechen auf Wirtschaftswachstum einlösen. Die jährliche Inflation im Iran liegt seit Raisis Wahl im Juni 2021 bei 44 Prozent. Ohne neue Einnahmen aus den Ölexporten wird seine Regierung nicht in der Lage sein, die Wirtschaft anzukurbeln, ohne die Inflation in die Höhe zu treiben. Die Iraner, deren Lebensstandard auf das Niveau von vor 20 Jahren gesunken ist, warten daher nervös auf gute Nachrichten aus Wien.

Insbesondere das Risiko, dass die Vereinten Nationen ihre eigenen Sanktionen aus der Zeit vor dem JCPoA wieder einführen – und damit die wirtschaftliche Austrocknung des Iran verschärfen – hängt wie ein Damoklesschwert über Raisis Präsidentschaft. Doch aus praktischen und ideologischen Gründen hat Raisis Team neue Forderungen nach Wien mitgebracht und den Rahmen für eine Verständigung, dem sein Vorgänger Hassan Rohani im Juni letzten Jahres vor der Unterbrechung der Gespräche zugestimmt hatte, abgelehnt.

Iranische Hardliner sind der Ansicht, das Abkommen von 2015 leide an zwei grundlegenden Mängeln. Der erste Fehler, durch Trump deutlich geworden, ist die Asymmetrie beim Preis, den Iran und die USA für die Aufkündigung des Abkommens durch Amerika zahlen. Die USA haben sich geweigert, zu versprechen, dass sie im Falle eines erneuten Beitritts zum JCPOA das Abkommen in Zukunft nicht wieder verlassen werden. Die Tatsache, dass US-Beamte eine lange Liste potenzieller Gründe für die Verhängung von Sanktionen gegen den Iran anführen – darunter die schlechte Menschenrechtsbilanz des Landes, sein Raketenarsenal und die Aktionen seiner regionalen Stellvertreter – macht einen Kompromiss noch schwieriger.

Das Hotel Palais Coburg in Wien (Foto: Leopold Nekula/VIE7143/picture alliance)
"Some hardliners believe that Iran's economic malaise is essentially domestic and can thus be cured even with US sanctions in place. The country's import dependence and banking crisis, they argue, should be fixed before entering nuclear negotiations, because greater economic resilience would do more for Iran than a deal reached from a weak position," writes Djavad Salehi-Isfahani. Pictured here: the Hotel Palais Coburg in Vienna, where talks are currently taking place

Angst vor neuen Sanktionen

Der zweite Mangel des JCPoA wurde während der Präsidentschaft von Barack Obama offensichtlich, der das Abkommen unterzeichnet hatte. Ausländische Unternehmen zögerten auch nach der Unterzeichnung, mit dem Iran Handel zu treiben oder dort zu investieren, weil sie befürchteten, dass die USA sie im Rahmen von nicht-nuklearen Sanktionen weiterhin strafrechtlich verfolgen und mit Geldstrafen belegen könnten.

Da keine klare Lösung für diese Probleme in Sicht ist, hat der Iran versucht, die Kosten für einen künftigen Ausstieg der USA in die Höhe zu treiben. Indem er sich mit der Eröffnung der aktuellen Wiener Gesprächsrunde fünf Monate Zeit gelassen hat (von Juni bis November) und sich zudem weigerte, mit der amerikanischen Delegation im selben Raum zu sitzen, sorgte er bei den US-Verhandlungsführern für reichlich Frustration. Der Iran hat auch seine Anreicherung von Uran weiter ausgebaut und damit die Zeit, die er für den Bau einer Bombe benötigt, von einem Jahr im Rahmen des JCPoA auf einige Wochen verkürzt.

Ob diese Schritte zu einem Abkommen führen werden, das für die Islamische Republik vorteilhafter ist als das JCPoA, ist zweifelhaft. In jedem Fall sind einige Hardliner der Meinung, dass die wirtschaftliche Misere des Iran im Wesentlichen hausgemachte Gründe hat und daher selbst dann behoben werden kann, wenn die US-Sanktionen weiterhin gelten.

Die Importabhängigkeit und die Bankenkrise des Landes, so argumentieren sie, sollten vor der Aufnahme von Atomverhandlungen behoben werden, denn eine größere wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit würde dem Iran mehr nützen als ein Abkommen, das aus einer schwachen Position heraus geschlossen wird. Dies ist die Logik hinter Irans "Widerstandswirtschaft“ sowie hinter Raisis Wahlkampfversprechen, das wirtschaftliche Schicksal des Landes nicht vom JCPoA abhängig zu machen.

Irans Präsident Ebrahim Raisi (Foto: jamaran)
"Iran's need for respite from sanctions is equally urgent, because its hardline president, Ebrahim Raisi, must deliver on his promise of economic growth. Annual inflation has been running at 44% since Raisi's election in June 2021," writes Djavad Salehi-Isfahani. Pictured here: Iranian President Ebrahim Raisi

Irans Wirtschaftskrise spitzt sich zu

Andere iranische Hardliner sind der Meinung, dass eine aufstrebende Regionalmacht mit strengen islamischen Werten wenig von einer Annäherung an den Westen profitieren kann. Sie sehen das derzeitige nukleare Patt als eine Gelegenheit, die iranische Wirtschaft nach Osten zu orientieren, auch durch langfristige Partnerschaftsabkommen mit China und Russland.

Raisis ehrgeizige Versprechen von neuen Arbeitsplätzen und Wohnungen werden ohne eine Erholung der Wirtschaft nicht zu erfüllen sein. Das Dilemma der Regierung spiegelt sich im Haushaltsentwurf für die Jahre 2022 bis 2023 wider, der von einer Fortsetzung der US-Sanktionen ausgeht und der inflationsbereinigt von den geringsten Ausgaben seit Jahren ausgeht.

Während die Gesamtausgaben des Staates um 9,6 Prozent steigen sollen, wird die Inflation in diesem Jahr wahrscheinlich 40 Prozent erreichen. Löhne und Gehälter werden voraussichtlich um 10 Prozent steigen, was zu einem Rückgang der Realeinkommen von mehr als drei Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes um 30 Prozent führen wird.

Da die wichtigsten iranischen Rentenkassen rote Zahlen schreiben und öffentliche Gelder brauchen, um ihre Renten auszahlen zu können, droht weiteren sechs Millionen Rentnern ein Verlust an Realeinkommen. Es ist daher eher selten, wenn Lehrer oder Rentner mal in einer Woche nicht gegen wirtschaftliche Sparmaßnahmen protestieren.

Vielleicht fürchtet Raisi am meisten, dass sich das Scheitern des früheren Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, eines konservativen Hardliners, wiederholen könnte. Ahmadinedschads Vernachlässigung der internationalen Bedenken angesichts des iranischen Atomprogramms veranlasste die Vereinten Nationen 2010 zur Verhängung ihrer Sanktionen.

Der Wunsch, eine Neuauflage dieser Sanktionen unbedingt zu vermeiden, könnte Raisis stärkster Anreiz sein, um in Wien einen Kompromiss anzustreben. Vor diesem Hintergrund könnte die jüngste Erklärung des Obersten Führers des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, dass Verhandlungen mit dem Feind nicht gleichbedeutend mit einer Kapitulation seien, genau das Signal sein, das die iranischen Atomunterhändler brauchen, um in den wenigen Wochen, die ihnen bis zum Abpfiff bleiben, doch noch eine Einigung zu erzielen.

© Project Syndicate 2022

Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Hubig.

Djavad Salehi-Isfahani ist Professor für Ökonomie an der Universität Virginia Tech, Research Fellow am Economic Research Forum in Cairo and ein Mitglied der Middle East Initiative am Harvard Kennedy School's Belfer Center for Science and International Affairs.